Wohnen: In guten wie in schweren Zeiten

Ich wurde 1934 als jüngstes und drittes Kind in Duisburg in einer bürgerlichen Familie geboren. Wir wohnten in einer 3-Zimmerwohnung in einem Wohnkomplex der Duisburger Wohnungsbau AG, einem vierstöckigen Haus mit 8 Familien. Die Gebäude waren im Jahre 1924 fertiggestellt worden. Unsere Wohnung lag im Erdgeschoss und umfasste eine geräumige Wohnküche, ein Elternschlafzimmer mit Außenbalkon, ein Kinderzimmer, ein Badezimmer mit Toilette und Wasserspülung und eine Diele. Das Badewasser lieferte ein gasbeheizter Durchlauferhitzer – alles in allem auch nach heutigen Begriffen eine zeitgemäß moderne Wohnung.

An der Rückseite des Gebäudes befand sich ein weitläufiger, zu den  nachbarschaftlichen Häusern offener parkartiger Hof mit Rasenflächen, Gesträuchgruppen und Sandkästen. Dieser in Winkelform angeordnete Häuserkomplex bestand aus neun Einzelhäusern mit je acht Wohneinheiten, also ein stattlicher Wohnblock.

Jeder Familie standen zwei Vorratskeller zur Verfügung. In jedem Haus existierte eine Waschküche im Kellergeschoss. Ein geräumiger Trockenspeicher befand sich im Dachgeschoss. Beides konnte von den Familien im zeitlich geordneten Turnus von vier Wochen genutzt werden und musste  der nachfolgenden Mietpartei im ordnungsgemäßen Zustand zur Verfügung stehen. Unsere Häuserzeile lag an der Johanniterstraße, die den Böninger Park durchquerte, einer ausgedehnten Parkanlage, die Eigentum der Duisburger Industrieellenfamilie Böninger war, bis sie in die 20-er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verringerte sich die Personenzahl unserer Familie, weil mein Vater zum Militärdienst eingezogen und meine älteste Schwester zum Militärhilfsdienst eingezogen wurde. Mein zweite Schwester evakuierte man mit ihrer gesamten Schule nach Böhmen & Mähren in die Kinderlandverschickung. So verblieb ich mit meiner Mutter alleine in Duisburg zurück.

In den Städten wurde nunmehr wegen der zunehmenden Gefahr durch Fliegerangriffe verstärkt der Bunkerbau betrieben. So erstellte man auf Freiflächen im Stadtgebiet Hoch- und Tiefbunker.  Auch in unserer nächsten Nachbarschaft im Böninger Park begann man einen Tiefbunker, das heißt, einen Schutzbunker für die Bewohner der umliegenden Wohngebiete unter der Erde anzulegen.

Zunächst suchte man den Bunker nur bei Fliegeralarm auf. Jedoch bei der sich verschärfenden Bedrohung durch die ständige Zunahme der Luftangriffe, ab 1943 gab es fast jede Nacht Fliegeralarm, gingen die Familien dazu über, Kinder und Jugendliche nicht mehr daheim schlafen zu lassen, sondern brachte sie im Bunker allabendlich zu Bett.

Wenn wir nach einem Bombenangriff aus unseren Luftschutzräumen in unsere Wohnung zurückkehrten, fanden wir je nach Nähe oder Entfernung der niedergegangenen Sprengbomben mehr oder weniger starke Verwüstungen in unserer Wohnung vor. Meist waren die Fensterscheiben zertrümmert und umherliegende Glassplitter mussten beseitigt werden. Gelegentlich hatte der Luftdruck einer in unmittelbarer Nähe unseres Hauses detonierten Bombe auch schon mal das ganze Fenster aus der Verankerung gerissen und in die Wohnung geschleudert, so dass nicht nur Arbeit für den Glaser entstand, sondern auch der Schreiner zur Hilfe gerufen werden musste. Diese Handwerker hatten dann verständlicherweise viel zu tun, denn wir teilten dieses Schicksal mit einer großen Anzahl anderer Familien.

Als herausragendes  Kriegsereignis für unsere Familie und unsere Stadt ist jener Bombenangriff auf Duisburg vom 14. und 15. Oktober 1944 zu bezeichnen. Denn als wir nach schwerem Bombardement am 14. Oktober unseren Bunker verließen, fanden wir unser Haus in der Häuserzeile der Johanniterstraße als brennendes Fanal vor. Zwar lag der Brandherd noch in den Obergeschossen der 3. und 4. Etage, es bestand jedoch kein Zweifel darüber, dass der Brand sich durch die aus Holz bestehenden Decken- bzw. Fußbodenkonstruktion bis zu unserer Wohnung im Erdgeschoss durchfressen würde. Es gelang, unseren gesamten Hausrat aus der Wohnung zu schaffen, während der Brand sich über unserer Wohnung langsam von Stockwerk zu Stockwerk nach unten fraß und letztendlich auch die Decke unserer Wohnung durchbrannte. So waren wir zunächst obdachlos und gehörten damit zu der riesengroßen Anzahl derer, die ihr ‘Dach über dem Kopf’ durch Kriegseinwirkung, wie es im seinerzeitigen Amtsdeutsch hieß, verloren hatten.

Im Gegensatz zu vielen anderen  Leidensfamilien in dieser Lage eröffnete sich für uns eine ideale Möglichkeit. In unmittelbarer Nähe unseres im Winkel angeordneten Wohnblockes der GEBAG  Johanniter/Ludwig-Knickmann-Straße lag jenseits der letzteren ein U-förmiger weiterer Wohnblock Johanniter/Ludwig-Knickmann/Zeppelinstraße, der bereits im Jahre 1942 von Bomben teils zerstört, teils schwer beschädigt wurde. Den stark beschädigten und deshalb unbewohnbar gewordenen Zug an der Ludwig-Knickmann-Straße hatte die Wohnungsbaugesellschaft inzwischen wieder soweit hergerichtet, dass die Bewohnbarkeit, zwar unter schwierigen Umständen, aber dennoch wieder möglich war. Uns wurde die Wohnung L.-K.-Straße 134 erste Etage links zugewiesen. Wir begannen, unser Inventar mit Hilfe von Nachbarn, Bekannten und anderen Hilfswilligen hierher zu schaffen und in diese Wohnung einzuräumen.

Mit diesem katastrophalen Ereignis endete unser Lebensabschnitt ‚Wohnen in guten Tagen’ und es begann die Phase ‚Wohnen in schweren Tagen’.

Die schrecklichen Erfahrungen der erlittenen Bombenangriffe hatten uns derart traumatisiert, dass sich unsere Mutter bei den Behörden um eine Evakuierung in weniger luftgefährdete Gebiete bemühte. Somit schlossen wir uns einem Evakuierungstransport zur Niederlausitz an. Man brachte uns auf einem Bauernhof im Raume Sorau/Sagen etwa 150 km südöstlich von Berlin unter. Mutter und ich wohnten in einem geräumigen Zimmer im Gesindehaus eines großen landwirtschaftlichen Gutes. Die Möblierung bestand aus einem Doppelbett, einem Kleiderschrank, einem Tisch mit zwei Stühlen und einer Waschkommode. Das Waschwasser mussten wir vom Hausflur holen. Für die Heizung stand uns ein mächtiger Kachelofen zur Verfügung, der mit Holz befeuert wurde. Der Hauswirt hielt mich an, das nötige Feuerholz selbst im Holzvorratschuppen des Hofes zu spalten und einen entsprechenden Vorrat in unserem Zimmer anzulegen.

Es dauerte nicht lange bis wir feststellen mussten, dass sich über die Dorfstraße ein ständig anwachsender Strom von Pferdefuhrwerken Richtung Westen bewegte. Es blieb uns nicht verborgen, dass sich die Kampffront vom Osten, also von Polen her, ständig und unaufhaltsam nach Westen bewegte. Eines Morgens rüstete auch unsere bäuerliche Gastfamilie mehrere Pferdefuhrwerke mit Hausrat und Verpflegung und stattete die Wagen mit Planenverdecken aus. Das war für uns das Signal, ebenfalls zum Aufbruch zu rüsten, wobei wir uns lediglich auf Handgepäck beschränken konnten, denn ein Fahrzeug stand uns nicht zur Verfügung. Meiner Schwester Thea, die inzwischen von Schlesien zu uns gestoßen war, hielt auf der Dorfstraße einen beschädigten Panzerwagen an und fragte die begleitenden Soldaten, ob sie uns mitnehmen könnten. Mutter, Thea und ich durften aufsitzen, und so begann für uns eine abenteuerliche Flucht zunächst bis Cottbus, von wo wir mit der Eisenbahn über Berlin nach Kiel reisten. Die Reiseumstände waren wegen der nach Westen strebenden Menschenmassen in immer wieder drangvoller Enge und angesichts des im Februar 1945 noch immer anhaltenden Winterwetters äußerst strapaziös. Ich muss heute noch die Umsicht und die Kühnheit unserer Mutter bewundern, die es unter den unglaublichen Bedingungen schaffte, unseren Dreierverband zusammenzuhalten. In Kiel suchten wir unsere Schwester Marianne in ihrer Marinedienststelle in der Nähe von Eckernförde auf. Das für Flüchtlinge zuständige Kreisamt wies uns einem Bauernhof an der Ostseeküste zu, wo für uns ein kleines aber zweckmäßig eingerichtetes Zimmer bereitstand, welches mit einem Bett, einem Kleiderschrank, einem Tisch mit 2 Stühlen und einem eisernen Kanonenofen ausgestattet war. Hier blieben wir über das Kriegsende im April 1945 etwa bis Juni des gleichen Jahres, um dann wieder zur endgültigen Heimkehr nach Duisburg, teilweise in leeren Kohlenzügen zu reisen. Je weiter wir ins Ruhrgebiet hineinfuhren, desto mehr gewahrten wir die starken Kriegszerstörungen der Städte, bis wir endlich den Duisburger Bahnhof erreichten, der einen ebenso trostlosen Anblick bot.

Für unsere Familie, unser Vater stieß auch recht bald zu uns, ergab sich die lebenswichtige Frage des Wohnraums. Also machten meine Eltern mit uns Kindern gemeinsam einen Vorstoß in unsere Wohnung Ludwig-Knickmann-Straße 134 erste Etage links. Wir fanden dort die Familie Götz vor, die wegen Unbewohnbarkeit ihrer eigenen Wohnung kurzerhand nicht nur sich unserer Wohnung bemächtigt, sondern auch gleich in unseren Möbeln  häuslich eingerichtet hatte. Die Familie Götz musste für uns fünf Personen ein Zimmer unserer Wohnung räumen, welches unsere Eltern mit dem Nötigsten aus unserem Mobiliar für uns einrichtete. Auch die Mitbenutzung der Küche konnte uns nicht vorenthalten werden, wie auch die der sanitären Einrichtungen. Man kann sich die drangvolle Enge dieser Wohnung heute kaum noch vergegenwärtigen. Dieser Zustand stellte an beide Mietparteien ein Höchstmaß an Geduld und Toleranz, was dennoch gelegentlich zu Spannungen führte und schließlich die Familie Götz zum Auszug veranlasste.

Nun stand uns zwar die gesamte Wohnung wieder zur Verfügung, jedoch waren wir mit erheblichen Mängeln konfrontiert, die noch auf Kriegsschäden zurückzuführen waren. Im Elternschlafzimmer regnet es durch, weil die Wohnung im vierten Stockwerk über uns ausgebrannt war und die Teerpappe des Flachdaches einige Leckstellen aufwies. Wir mussten bei Regenwetter Auffanggefäße aufstellen und die Möbel so positionieren, dass sie nicht nass wurden. In den Fenstern fehlten zahlreiche Glasscheiben, und wir mussten die offenen Stellen mit Sperrholz und Pappe zunächst ausfüllen. Nach und nach wurden die unterbrochenen Versorgungsleitung für Wasser, Elektrizität und Gas wieder hergestellt, so dass eine gewisse Normalität unseren Alltag wieder erträglicher machte. Am unangenehmsten hatte sich das Fehlen des Wassers bemerkbar gemacht. Mehrmals am Tage wurde ich unter anderem losgeschickt, um mit zwei Eimern in nachbarschaftlichen Schrebergärten, die über selbst angelegte Tiefbrunnen verfügten, einen gewissen Wasservorrat anzulegen. An den handbetriebenen Wasserpumpen standen stets Warteschlangen und es passierte schon mal, dass die Pumpen wegen allzu starker Beanspruchung kein Wasser mehr hergaben. Dann war geduldiges Warten angesagt. Ein gewaltiger Herbststurm fegte wegen der zertrümmerten Fenster des Dachgeschosses das gesamte Hausdach herunter. Bei der sofort durchgeführten Reparatur setzt man das Dachgeschoss sofort vollständig einschließlich der Fenster wieder instand, wodurch die darin befindlichen Mansardenräume wieder bewohnbar wurden. Hier erhielt ich ein Mansardenzimmer zugeteilt, so dass die drangvolle Enge der Schlafmöglichkeiten in unserer Wohnung gemildert wurde.

Auszug einer Lesung in der Buchhandlung am Löhberg am 11.02.2016

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