Zaungast beim schönsten Rennen der Welt

Im Windschatten der berühmten Mille Miglia in Italien

Mitte Mai dreht das ohnehin autoverrückte Italien am Rad – wenn in Brescia die „Mille Miglia“ startet. Nicht umsonst nennt man den legendären Oldtimer-Rundkurs bis Rom und zurück auch das „schönste Rennen der Welt“. Tausend Meilen, rund 1.600 Kilometer, sind zurückzulegen, durch enge Dörfchen und alte Städte, über kurvige Bergpässe und durch idyllische Landschaften. Zugelassen bei der teuren Blechkarawane sind nur Fahrzeuge mit Baujahr des historischen Originals von 1927 und 1957. Im Tross hinterher jagt aber alles, wovon Autoliebhaber nur zu träumen wagen – vom neuesten Supersportwagen der Marken Ferrari, Mercedes, Porsche, Aston Martin oder Lamborghini bis hin zum schnuckeligen VW Käfer und Fiat 500. Seit einigen Jahren organisiert der Ford Oldtimer- und Motorsportclub Cologne parallel zur Mille eine eigene Ausfahrt – entlang der schönsten Strecken zwischen Gardasee und Toskana, immer im Windschatten der millionenschweren Edelkarossen. Und wir mitten drin mit unserem 68er Ford Mustang.

Gebetbuch im Cockpit

Erfunden haben das bekannteste Oldtimerrennen der Welt drei junge Männer aus Brescia, die ihre Heimatstadt zum Zentrum des Motorsports machen wollten. Ging es in den Anfangsjahren nur darum, die tausend Meilen im normalen Straßenverkehr in Bestzeit abzureißen, dürfen sich die 430 Teilnehmer aus aller Welt heute vier Tage Zeit lassen – mit Übernachtungen und ausreichend Gelegenheiten, sich vom Fähnchen schwingenden Fußvolk ausgiebig feiern zu lassen. Das erste Rennen gewann ein in Brescia gebauter OM in einer Zeit von 21 Stunden, 4 Minuten und 48 Sekunden und mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 77 km/h – auch heute noch wird die Startnummer 1 nur an einen OM vergeben. Bereits drei Jahre später, als sich der „fliegende Mantuaner“ Tazio Nuvolari aufs Siegertreppchen katapultierte, lag der Schnitt schon bei 100 km/h. Zur großen Freude der Italiener haben meist einheimische Fabrikate wie Alfa Romeo, Lancia und Ferrari die Nase vorn. Berühmte Ausnahmen waren Rudolf Caracciola 1931 und Stirling Moss 1955 im Mercedes. Letzterer soll das Ziel in seinem 300 SLR nur dank des Gebetbuches seines Beifahrers nach 10 Stunden 7 Minuten und 48 Sekunden erreicht haben – mit der schnellsten jemals auf dieser Strecke gefahrenen Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 157,62 km/h.

Sehen und gesehen werden

Schwere Unfälle blieben nicht aus und brachten die Mille Miglia in die Kritik – 1957 war erst einmal Schluss mit der wilden Raserei über die Dörfer, erst 20 Jahre später kam es zur etwas gebremsten Neuauflage. Längst geht es bei dem Spektakel mit wechselnden Routen nicht mehr um Höchstgeschwindigkeit, sondern um Sehen und Gesehen werden, um Gleichmäßigkeit und Zuverlässigkeit, die die Fahrerteams in etlichen Sonderprüfungen unter Beweis stellen müssen. Nicht jeder der kostbaren alten Rennwagen schafft es ins Ziel, und Italien im Mai kann noch sehr nass und kalt sein. Um so wärmer ist der Empfang der Zuschauer am Streckenrand, die sich zum Picknick verabreden oder die Straßencafés in Beschlag nehmen. Schulen und Kindergärten machen Pause, damit die jubelnden Kinder eine ordentliche Nase Benzin nehmen können.

Wer so einen wertvollen Besitz spazieren fährt, genießt das organisierte Bad in der Menge. Ob beim Start und Ziel in der Altstadt von Brescia, bei der nächtlichen Einfahrt in Rom und Abstechern in Siena, Florenz und Bologna, sogar auf dem einsamen Futa Pass bei Einbruch der Dämmerung – überall wird die vorbeibrausende Meute euphorisch gefeiert. Während San Marino diesmal außen vor blieb und sich lieber schon auf die nahenden Radfahrer des Giros d’Italia vorbereitete, rollte Siena auf seinem ehrwürdigen Campo schon einmal vorsorglich Kunstrasen aus, damit kein Öltröpfchen danebenging. Volle Innenstädte, Staus, Lärm und Gestank, das alles spielt bei der Mille Miglia keine Rolle. Wer letztendlich gewinnt, auch nicht. 2019 waren es nebenbei Giovanni Moceri and Daniele Bonetti mit ihrem Alfa Romeo 6C 1500 SSA von 1928, gefolgt von Andrea Vesco and Andrea Guerini im Alfa Romeo 6C 1750 SS Zagato von 1929. Wie gesagt – meistens gewinnen die Italiener. Aber nach rund 1000 Meilen zusammen gehört man ja fast schon zur Familie.

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