Fliegenpilze im Vorgarten – Giftpilz oder Glücksbringer?

Es ist Herbst. Die Blätter fallen, die Pilze sprießen. Ein ganz besonders hübscher Vertreter dieser Art hat sich unter meine Birke im Vorgarten gesellt:  Eine kleine Schar Fliegenpilze.  Die alten Germanen glaubten, Fliegenpilze würden überall dort wachsen, wo Schaum aus dem Maul von Wotans Pferd auf die Erde getropft sei. Ob tödlicher Giftpilz oder Glücksbringer – lieber nicht ausprobieren!

Woher der rot-weiß-getupfte Hutträger seinen Namen hat, ist umstritten. Angeblich schnitten die Menschen früher den Pilz in kleine Stücke und legten ihn in gezuckerte Milch, um Fliegen anzulocken und zu töten. Das stimmt so aber nicht:  Die Fliegen fallen zwar um, sind aber offenbar nur betäubt und fliegen nach einiger Zeit wieder weg.  Am wahrscheinlichsten ist Folgendes: Im Mittelalter galten Fliegen als Symbol des Wahnsinns. Ob geraucht, gekaut oder getrunken – die Wirkung des Pilzes soll irgendwo zwischen Hochgefühl und Halluzinationen liegen. Es treten Bewusstseinstrübungen und Realitätsverkennungen auf sowie die Überzeugung, fremde Personen seien anwesend.

Louis Lewin, der Begründer der modernen Toxikologie, beschreibt das so:

„Ein solcher Mensch sieht bei erweiterten Pupillen alle ihm vorgelegten Gegenstände in ungeheurer Vergrößerung und äußert sich darüber. Ein kleines Loch erscheint ihm als schrecklicher Abgrund und ein Löffel voll Wasser ein See zu sein. Entsprechend diesem Trugsehen kann er auch zu einer Handlung veranlasst werden. Legt man ihm ein kleines Hindernis, zum Beispiel ein Stöckchen in den Weg, so bleibt er stehen, mustert dasselbe und springt schließlich mit einem gewaltigen Satz darüber hinweg.“

Die Priester der Maya sollen getrocknete Fliegenpilze geraucht haben, um zu göttlichen Visionen zu kommen. Im alten Indien trank man den Saft angeblich bei kultischen Handlungen. Bis heute ist umstritten, ob der heilige Trank Soma aus Fliegenpilzen zubereitet wurde. Auch die sibirischen Schamanen sammelten den Pilz, um sich damit in Ekstase zu versetzen. Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich der Fliegenpilz zu einer Modedroge. So berichtet der englische Reisende Oliver Goldsmith von einem Volksfest der Korjaken: “Wenn die hohen Damen und Herren versammelt sind, macht der Pilzsud seine Runde. Sie beginnen zu lachen, erzählen Unsinn, werden zunehmend beschwipst und somit zu ausgezeichneten Gesellschaftern.”

Die Pilze waren so begehrt, dass für ein einzelnes Exemplar manchmal ein ausgewachsenes Rentier bezahlt wurde. Natürlich waren auch die ärmeren Leute an den berauschenden Pilzen interessiert. Deshalb legten sie sich angeblich auf die Lauer und warteten, bis die Damen und Herren der Gesellschaft zum Wasserlassen herauskamen, fingen den Urin auf und tranken ihn. Denn die Wirkung wird durch die Filtration im Körper nicht gemindert.

Auch der britische Schriftsteller Lewis Carroll hat dem Fliegenpilz in seinem berühmten Kinderbuch “Alice im Wunderland” ein Denkmal gesetzt: Die Raupe mit der Wasserpfeife gibt Alice den Tipp, von dem Pilz zu essen, um wieder zu ihrer normalen Größe zurückzufinden: “Von der einen Seite wirst du kleiner und von der anderen größer.” Doch der Pilz ist unberechenbar. Mal stößt Alice mit dem Kinn an ihren Fuß, mal blickt sie über die Baumwipfel bis sie endlich vorsichtig knabbernd wieder ihre Normalgröße erlangt.

Quelle: planet-wissen.de

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