Demenzgeschichten “Donau, so blau!”

In einem 30 Seelen Dorf geboren, war die Stadt eine Herausforderung, die Großstadt ein Abenteuer.

Unschlüssig steht sie auf der großen Kreuzung. Um sie herum brandet der Verkehr. Die Luft ist durchdrungen von Abgasen. Zögernd setzt sie einen Schritt auf die Fahrbahn, schreckt zurück, versucht es erneut, schreckt zurück, strafft sich schließlich und lässt sich mit dem Strom der nächsten Grünphase treiben.

Geborgen in der Masse strandet sie in einem kleinen Park. Das Tanzcafé in der Mitte des Parks erkennt sie sofort. Mit Herzklopfen setzt sie sich auf die Bank. Es dauerte nicht lange, da tritt ein junger Mann auf sie zu. Formvollendet verbeugt er sich vor ihr.

„Darf ich bitten?“

Freudig steht sie auf. Sie legt ihren Arm um ihn. Es ist ganz leicht, den gemeinsamen Rhythmus zu finden. Eins, zwei, drei; eins, zwei, drei; „Donau so blau, so blau so blau, so blau.“ Voller Begeisterung singt sie den Text mit. Versunken, den Arm um den jungen Mann gelegt, tanzt sie zu den bekannten Klängen.

Dem Walzer folgt ein Tango, dem Tango ein Marsch und wieder ein Walzer. Sie kommt kaum dazu, sich zum Verschnaufen auf die Bank zu setzen. Die jungen Männer sind gut erzogen. Immer wieder verbeugt sich einer vor ihr und fragt: „Darf ich bitten?“

Sie ist selig; ewig könnte sie so weiter tanzen.

Dann steht da ein anderer Mann vor ihr. Schneidig sieht er aus, so in seiner Uniform. Sie mag Männer in Uniformen. Sie weiß nicht warum, aber sie strahlen so etwas aus, so etwas Respekteinflößendes. Sie ist stolz, dass er sich für sie interessiert. Leise summt sie die Walzermelodie vor sich hin „Lippen schweigen, `s flüstern Geigen, hab mich lieb!“ Sehnsuchtsvoll wiegt sie sich im Takt. Gleich wird er sich vor ihr verbeugen.

„Darf ich bitten?“

Sie fühlt seine Hand auf ihrer Schulter. Er beugt sich zu ihr hinunter. Dann sagt er: “Lassen Sie uns gehen, es ist zu gefährlich für eine alte Frau so allein im Park!“

Christa Wolf – Platz 4

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