Demenzgeschichten: Das Brathähnchen

Die nette Aussiedlerin verabschiedet sich. Sie braucht wieder einmal eine polnische Übersetzung, diesmal für einen Notartermin. Groß ist die Nachfrage nach polnischen Übersetzungen beim Übersetzungsbüro Potzblitz nicht. Wahrscheinlich gehen die meisten Übersetzungsaufträge für Polnisch an das Büro für Ostsprachen ein paar Straßen weiter. Seitdem der frühere Übersetzer in Ruhestand gegangen ist, übersetzt ein alter Herr die polnischen Urkunden für Potzblitz. Obwohl er vom Oberlandesgericht als Übersetzer für Polnisch ermächtigt ist, ist die für das Privatkundengeschäft zuständige Veronika mit ihm nicht ganz zufrieden. In Anbetracht der geringen Nachfrage hat sie sich aber noch nicht die Mühe gemacht, einen besseren freien Mitarbeiter für Polnisch zu finden.

Der alte Herr sagt sofort zu, und Veronika schickt ihm die eingescannte Geburtsurkunde per E-Mail. „In spätestens zwei Wochen muss die beglaubigte Übersetzung im Original bei mir sein“, schärft sie ihm ein. Damit sie die Übersetzung schon vorab Korrektur lesen kann, setzt sie hinzu: „Bitte schicken Sie mir die Übersetzung vorab per E-Mail zu.“ Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass es bei ihm in der Regel etwas zu korrigieren gibt. Da sie keine Empfangsbestätigung erhält, ruft sie zwei Tage später wieder an. Ja, er hat ihre E-Mail erhalten und macht die Übersetzung.

Als Veronika am Ende der Woche immer noch keine Übersetzung bekommen hat, ruft sie wieder an. „Die ist vom Kunden abgesagt worden“, erklärt ihr der Polnischübersetzer. „Wie bitte?? Von was für einem Kunden?” fragt Veronika. Nach eingehender Nachfrage stellt sich heraus, dass er wohl eine Anfrage von einem anderen Kunden erhalten hat, der ihn dann aber doch nicht beauftragt hat. Es gelingt ihr nur mit Mühe, ihn zu überzeugen, dass er die Übersetzung für Potzblitz doch noch machen muss. Er erzählt, er hätte einige Seiten vom Gericht zur Übersetzung bekommen, und eigentlich hätte er jetzt keine Zeit mehr für die Geburtsurkunde. „Wenn Sie noch andere Aufträge annehmen, müssen Sie den Auftrag für uns aber trotzdem pünktlich liefern,“ sagt Veronika streng.

Tatsächlich kommt die Übersetzung des Polnischübersetzers nun auch bald, allerdings nicht per E-Mail, sondern per Fax – und voller Fehler. 12 Fehler auf 12 Zeilen zählt Veronika. Als sie ihn anruft und die zahlreichen Fehler beanstandet, sagt er, sie hätte ihn zu sehr unter Druck gesetzt. „Sie hatten für diese paar Zeilen eine ganze Arbeitswoche Zeit. Wieso habe ich Sie zu sehr unter Druck gesetzt? Außerdem ist das ein Standardformular, das Sie jedenfalls schon oft zur Übersetzung bekommen haben. Sie brauchen doch nur die personenbezogenen Daten einsetzen. Warum sind dann so viele Fehler aufgetreten?“ „Ich habe alles neu übersetzt“, sagt der Polnischübersetzer. Nun wundert sich Veronika nicht nur über die vielen Fehler, sondern auch über seine ineffiziente Arbeitsweise. Zu ihren Beanstandungen gehört unter anderem ein fehlerhaftes diakritisches Zeichen. „Früher konnte ich es schreiben, aber jetzt habe ich es nicht mehr gefunden“, sagt er. Er erklärt sich aber bereit, die Fehler zu korrigieren. „Schicken Sie mir die korrigierte Übersetzung bitte per E-Mail als Word-Datei“, schärft sie ihm ein, in dem Gedanken, etwaige verbleibende Fehler gleich selbst in der Word-Datei zu korrigieren.

Am Montag bekommt sie dann tatsächlich eine E-Mail vom Polnischübersetzer, allerdings mit der Übersetzung als PDF-Datei, die sie nicht bearbeiten kann. Die Übersetzung ist wieder voller Fehler, diesmal aber zum Teil andere. Als sie den Polnischübersetzer anruft, ist er sehr aufgeregt. „Dies ist ein furchtbarer Tag! Ich habe drei Seiten fürs Gericht übersetzt, und jetzt sind sie verschwunden!“ Veronika schwant Böses. Die Übersetzung für Potzblitz hat er offensichtlich auch schon wieder komplett neu erstellt, daher die neuen Fehler. Weiß er nicht mehr, wie man Dateien speichert? Früher konnte er das, und er konnte ihr auch gespeicherte Word-Dateien per E-Mail zusenden. Sie schärft ihm noch einmal ein, dass sie schleunigst eine fehlerfreie Übersetzung braucht, und zwar als Word-Datei per E-Mail. „Es nutzt mir nichts, dass Sie die Richtigkeit und Vollständigkeit bescheinigen, wenn die Übersetzung weder richtig noch vollständig ist“, sagt sie.

Veronika klagt ihr Leid ihrer Kollegin Nicole, die für das Firmenkundengeschäft zuständig ist. „Vor 1 ¼ Jahren habe ich ihn das letzte Mal beauftragt. Damals hatte ich einen Fehler gefunden. Den hat er korrigiert, und dann war die Sache erledigt. Aber jetzt geht nichts mehr! Die Ähnlichkeit zwischen Ausgangs- und Zieltext wirkt wie zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht einmal die polnischen Sonderzeichen kann er mehr schreiben! Wie kann er dann als Polnischübersetzer arbeiten?“ „Der kann überhaupt nicht mehr arbeiten, nicht nur als Polnischübersetzer nicht“, sagt Nicole. „Such dir lieber einen anderen Übersetzer.“ „Warum hat er mir denn nicht gleich gesagt, dass er nicht mehr übersetzen kann? Er schädigt doch seine Kunden.“ „Weil er es selbst nicht merkt. Meine Tante hat ihr Auto zu Schrott gefahren, weil sie nicht bereit war einzusehen, dass sie nicht mehr Auto fahren kann. Dabei kann man schon froh sein, dass keine Personen zu Schaden gekommen sind.“ „Richtig, er sieht überhaupt nichts ein. Schuld ist sein Computer, der die ganzen Übersetzungsfehler produziert, und natürlich ich, die ich seine perfekten Übersetzungen beanstande.“ Das Telefon klingelt. Nicole hebt ab. „Ja, Herr Hunold, Ihre Übersetzung kommt gleich.“ „Das Stahlwerk“, sagt sie, nachdem sie aufgelegt hat. „Ich muss weitermachen.“

Die nächste korrigierte Übersetzung kommt dann wieder per Fax, immerhin mit weniger Fehlern als vorher, aber dafür hat der Polnischübersetzer die Aussiedlerin jetzt um 18 Jahre jünger gemacht. Als Veronika die falsche Jahreszahl moniert, hat er kein Verständnis. „Das ist doch richtig!“ Auch behauptet er, er könne keine E-Mails senden. „Sie haben mir aber doch gerade noch die PDF-Datei geschickt. Wie haben Sie das denn gemacht?“ „Das weiß ich nicht.“ Veronika rauft sich die Haare. Aber es kommt ihr eine Idee für einen letzten Versuch, denn für eine beglaubigte Übersetzung braucht sie seine Unterschrift. „Wenn ich Ihre PDF-Datei mit OCR einlese, die Fehler korrigiere und Ihnen dann zuschicke, können Sie sie – wenn Sie mit meinen Korrekturen einverstanden sind – ausdrucken, unterschreiben und mir per Post schicken?“ „Das kann ich machen.“

Am nächsten Tag ruft sie an, ob er ihre E-Mail mit der korrigierten Übersetzung bekommen hat. Als er das bestätigt, schärft sie ihm ein, sie sofort auszudrucken, zu unterschreiben und vor der Leerung in die Post zu geben. Er verspricht hoch und heilig, das zu tun. Gegen Feierabend gehen beim Übersetzungsbüro Potzblitz mehrere Faxe ein. Als Veronika hinschaut, erkennt sie, dass es sich um eine der bereits von ihr korrigierten fehlerhaften Übersetzungen handelt. Sie ruft den Polnischübersetzer an. „Ich brauche keine Faxe, sondern die korrigierte Übersetzung unterschrieben von Ihnen per Post“, sagt sie genervt. „Haben Sie sie heute in die Post gegeben?“ „Ich habe nichts von Ihnen bekommen.“ „Heute Morgen hatten Sie meine E-Mail aber noch bekommen!“

Ein letzter verzweifelter Versuch fällt ihr noch ein. „Wenn ich die korrigierte Übersetzung heute an Sie in die Post gebe, haben Sie sie morgen im Briefkasten. Könnten Sie sie bitte unterschreiben, stempeln und sofort wieder an mich zurückschicken?“ „Das kann ich machen.“ Nicole ist skeptisch. Veronika schreibt den Übersetzungsauftrag vorsichtshalber parallel dazu im Internet aus, denn die ursprünglich großzügige Lieferfrist von zwei Wochen für diesen Miniauftrag ist mittlerweile auf wenige Tage geschrumpft.

Als sie am nächsten Tag ins Büro kommt, liegt ein dicker Stapel Papier im Faxgerät. Wieder die gleiche fehlerhafte Übersetzung. Der Anrufbeantworter ist voll. Lauter Faxtöne. Entnervt ruft sie den Polnischübersetzer an. „Hören Sie bitte sofort mit den Faxen auf!! Haben Sie meinen Brief bekommen?“ Der Polnischübersetzer macht einen sehr verwirrten Eindruck. „Sie werden es ja nicht glauben, aber statt Ihres Briefes hat der Briefbote mir heute ein Brathähnchen in den Briefkasten geworfen! Ich weiß gar nicht, warum er das gemacht hat.“ Veronika und Nicole sehen sich mit großen Augen an. Veronika steht entschlossen auf. „Jetzt gehe ich zum Chef!“

Nachdem sie dem Chef von den Problemen mit dem Polnischübersetzer berichtet hat, sagt dieser: „Schicken Sie schleunigst eine E-Mail an den Polnischübersetzer: ‚Ihre Übersetzung ist viel zu fehlerhaft, und sämtliche Nachbesserungsversuche sind fehlgeschlagen. Wir treten vom Vertrag zurück.’ Und suchen Sie sofort nach einem neuen Polnischübersetzer!“ Als Veronika sich zum Gehen schickt, fragt er noch grinsend: „Haben Sie den alten Herrn denn wenigstens gefragt, ob ihm das Brathähnchen geschmeckt hat?“ „Wenn ich ihn das frage, wird er sagen, er habe nie von einem Brathähnchen gesprochen. Er widerspricht sich andauernd.“

Sie geht gemäß den Anweisungen des Chefs vor und hat Glück: Unter den inzwischen auf ihre Ausschreibung eingegangenen Angeboten findet sich schnell eine Übersetzerin, die die Übersetzung sofort macht, sie Veronika zur Ansicht zuschickt und sie dann noch am selben Tag in die Post gibt. Veronika fällt ein Stein vom Herzen. Der Kundentermin ist gerettet.

Während sie nach Feierabend an der Straßenbahnhaltestelle wartet, fällt ihr eine verwirrt wirkende alte Frau auf. Als die Straßenbahn einfährt, wäre die alte Frau um ein Haar vor die Bahn gelaufen, wenn Veronika sie nicht in letzter Sekunde zurückgehalten hätte. Statt ihr dankbar zu sein, dass sie ihr das Leben gerettet hat, ist die Alte erbost, dass sie es gewagt hat, sie anzufassen, und haut ihr ihren Krückstock auf den Kopf.

In der Straßenbahn beobachtet Veronika die Alte, wie sie brabbelnd in der Straßenbahn umherirrt. Vor einer Gruppe Jugendlicher bleibt sie stehen. „Ist die nächste Haltestelle München?“ Einer der Jugendlichen antwortet schließlich vorsichtig: „Wir sind hier in Hannover.“ „München! Wir sind hier in München!!“ brüllt die Alte, wieder ganz aggressiv, und fuchtelt mit ihrem Krückstock in der Luft herum. Veronika fragt sich, ob sie den Jugendlichen auch einen überbraten will, weil sie ihr nicht die gewünschte Auskunft gegeben haben. Das würde ihr wohl nicht so gut bekommen. Die Jungs sehen so aus, als ob sie sich zu wehren wüssten.

Veronika befühlt ihre Beule am Kopf und überlegt, dass eigentlich etwas unternommen werden müsste, denn wenn sie nicht eingegriffen hätte, wäre die Alte jetzt vielleicht tot. Aber sie hat keine Lust, noch einmal den Krückstock auf den Kopf zu bekommen, und hält sich lieber zurück. „Heute ist mein Demenztag“, denkt sie.

Von Annette Scheulen, Bergheim

 

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