Die „Reise“ meines Lebens

Wegen der schlimmen Erfahrungen aus den Bombenangriffen auf unsere Heimatstadt Duisburg, insbesondere dem Dreifachangriff vom 14./15. Oktober 1944, der als schwerster Luftangriff, der jemals auf eine einzige Stadt bis dahin erfolgte, hatte sich unsere Mutter um eine Evakuierung in weniger luftgefährdete Gebiete bemüht. Meine älteste Schwester war dienstverpflichtet bei der Deutschen Kriegsmarine im heutigen Schleswig- Holstein, und meine zweitälteste Schwester befand sich damals mit 15 Jahren in der Kinderlandverschickung in Oberschlesien. Wir, meine Mutter und ich, wurden am 8. Januar 1945 zur Niederlausitz in den Raum Sorau, heute zu Polen gehörig, verschickt.

Wir erhielten Quartier auf einem Bauernhof und verbrachten dort zunächst eine ruhige, sorgenfreie Zeit. Jedoch wurden wir bereits wenige Wochen nach unserer Ankunft darauf aufmerksam, dass sich die Dorfstraße nach und nach mit westwärts ziehenden Fahrzeugen, hauptsächlich  Pferdefuhrwerken, beladen mit Hab und Gut und Menschen, Frauen, Kindern, alten Leuten, spürbar belebte. Es entstand ein regelrechter Fahrzeugstrom, der kaum noch unterbrochen wurde und nur abends bzw. nachts verebbte. Auf Nachfrage bestätigte sich unsere Vermutung, dass es sich um Flüchtende aus den weiter östlich gelegenen Landesteilen handelte, die sich vor der herannahenden Kampfesfront der Deutschen Wehrmacht in Sicherheit zu bringen versuchten, die sich im Rückzug vor den voranstürmenden Russischen Heeresstreitkräften verteidigten. Als dann auch noch unsere bäuerliche Gastfamilie einige Fahrzeuggespanne auf- und ausrüstete, bestand für uns kein Zweifel, dass auch wir uns zum Aufbruch nach Westen einstellen mussten. Meine Schwester war inzwischen aus Oberschlesien zu uns nach Sorau gereist, und wir stellten beim Studium ihres Schulatlasses fest, dass die in den Wehrmachtsberichten genannten Orte des aktuellen Frontverlaufes sich unserem Fluchtdomizil bedrohlich näherten. Unser Gastgeber stellte uns einen Handleiterwagen zur Verfügung, mit dem wir unser Gepäck und uns auf Schusters Rappen in Sicherheit bringen wollten. Jedoch war unser Wägelchen zu schwach. Es brach zusammen. Meine Schwester lief zur Straße, um nach einer Mitfahrgelegenheit Ausschau zu halten. Da stoppte der Flüchtlingstreck und genau vor unserem Hause hielt ein Panzerschleppzug, also ein Schützenpanzerwagen, der ein beschädigtes Fahrzeug gleicher Bauart im Schlepp hatte. Meine Schwester handelte mit den aufsitzenden Soldaten aus, dass sie, meine Mutter und ich aufsteigen und mitfahren durften. Unser Hab und Gut ließen wir an Ort und Stelle auf der Hofausfahrt zurück.

Mit dieser militärischen Fahrmöglichkeit fuhren wir einen Tag, eine Nacht und den folgenden Tag bis Bad Muskau. Wir erfuhren erst später, dass unsere Sitzgelegenheiten aus Munitionskisten mit Handgranaten, Panzerfäusten und Gewehrmunition bestanden.

In Bad Muskau stiegen wir auf zivile Transportmittel um, denn ab hier funktionierte noch die Eisenbahn. Allerdings hatte bereits eine gewaltige Zahl an Flüchtenden von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und wir Drei fanden nur noch auf einer Verbindungsbrücke zwischen zwei Personenwagen Platz, was wegen der noch herrschenden winterlichen Kälte und den Funken aus dem Schornstein der Lokomotive alles andere als komfortabel war. Dieser Vorortzug brachte uns nur nach Cottbus. Es gelang uns, einen Anschlusszug nach Berlin zu finden, denn es gab kaum eine andere Verbindung, die in annähernd westliche Richtung führte. Auch dieser Zug war hoffnungslos überfüllt, und es gestaltete sich äußerst schwierig, für uns drei Personen noch darin Platz zu finden. An Sitzplätze war gar nicht erst zu denken, Hauptsache erst einmal drin sein und hinter sich die Türe zu, man rappelte sich schon zurecht.

Berlin erreichten wir am heraufdämmernden nächsten Morgen. Am Lehrter Bahnhof verließen wir die drangvolle Enge. Der Bahnhof wies die üblichen Bombenschäden auf, Dach und Fenster waren fortgerissen. Wir blickten in einen schönen Vorfrühlingshimmel. Unsere Mutter machte sich sofort auf, um Erkundigungen über ein Weiterkommen einzuholen und etwas Essbares aufzutreiben, während Thea und ich bei unserem spärlichen Gepäck im Wartesaal zwischen einer Menge Menschen zurück- blieben. Es schien, als ob sich halb Deutschland auf Reisen begeben hätte. Mutter erschien nach geraumer Zeit mit der Auskunft, gegen Abend ginge ein Zug nach Flensburg über Kiel und Schleswig ab, und sie brachte ein ordentliches Paket Butterbrote und eine Schüssel Malzkaffee, Muckefuck genannt, mit. Es dauerte unendlich lange, bis am Spätnachmittag der Zug nach Flensburg ausgerufen wurde. Wir machten uns sofort auf den Weg, um noch ein günstiges Plätzchen zu erhaschen. Auch jetzt wurde unser Optimismus enttäuscht, denn es erwarteten uns wieder von Menschen überquellende Zugabteile. Plötzlich entdeckte Mutter ein Abteil mit einem Schild: ‚Deutsche Kriegsmarine / Dienstabteil’. Mutter öffnete mit dem Mut einer Verzweifelten die Abteiltür: niemand anwesend! Wir stiegen unverdrossen ein und harrten der Dinge, die da kommen könnten. Jedoch erschien keine uniformierte Amtsperson, um uns aus dem bequemen Abteil zu verweisen. Wieder dauerte es scheinbar unendlich, bis der Zug sich in Bewegung setzte. Wir verließen den Bahnhof, das Stadtgebiet und strebten dem Berliner Umland zu, und es gab Fliegeralarm. Am Himmel erschienen die uns bekannten untrüglichen Zeichen eines nahenden Bombenangriffs, Scheinwerferstrahlen, explodierende Flakgranaten, die bekannten Christbäume, das sind die abgeworfenen Zielmarkierungen der angreifenden feindlichen Flugzeuge. Wir befanden uns jedoch bereits in sicherer Entfernung, der Zug verlangsamte seine Fahrt und hielt dann vollständig an. Nachdem wir diesem beklemmenden Schauspiel etwa eine Stunde lang zuschauen durften, war das Spektakel beendet, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Wir gaben uns einer immer noch ungestörten Ruhe hin und erwachten erst wieder, als wir in aller Frühe des folgenden Tages Kiel erreichten.

Hier fühlten wir uns vor den Kampfhandlungen der Ostfront in Sicherheit und konnten uns in Ruhe der Suche nach einem weiteren Verbleib widmen.

                                             Erinnerungen K.H.RU / Auszug aus Kapitel 2: Kindheit)

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