Flüchtlingskinder waren meine Freundinnen

Wir schrieben das Jahr 1944, mitten im 2. Weltkrieg. Die Bombenangriffe auf Essen fielen in immer kürzeren Zeitabständen, da brachten mich meine Eltern, weil ich ständig erkältet war und oft Mandelentzündungen hatte, zu Pflegeeltern nach Schoningen im Solling am Harz.

In dem Dorf gab es Gott sei Dank kein Hin-und-her-Gezerre mehr zwischen Kinderbett, Bunker oder Luftschutzkeller. Meine Mutter sah ich allerdings nur noch für einige Tage im Monat und meinen Vater nur einmal im Jahr, wenn er Urlaub hatte. Aber meine Pflegeeltern waren gut zu mir, da hatte ich Glück.

In dem 3000-Seelendorf waren wir also sicher vor Bombenangriffen, nicht aber vor Flüchtlingsströmen. Zuerst waren es deutsche Soldaten, die vor den Russen und Amerikanern flüchteten. Sie blieben nur kurze Zeit, um sich ein paar Tage zu erholen, dann flüchteten sie weiter. Danach folgten Flüchtlingsströme aus Ostberlin, Sachsen und Schlesien. Sie mussten ihre Heimat aufgeben, weil die Russen immer mehr ihre Gebiete besetzten und für sie kein Platz mehr war. Es gab Flüchtlinge, die durch unser Dorf zogen und viele, die auch blieben.  Die Einheimischen, vor allen Dingen die Bauern, hielten nichts von Flüchtlingen. Alles, was aus dem Osten kam, waren für sie Zigeuner, oder die aus den Städten kamen, die konnten doch nicht arbeiten, war ihre Devise. Viele waren auch noch geizig.

Zu der Zeit in einem Dorf zu leben und zu arbeiten, war sehr schwer. Damals gab es noch nicht so viele Landmaschinen wie heute. Es war eine harte körperliche Arbeit. Privatleben kannten die Bauern nicht. Die Flüchtlinge, die in unserem Dorf blieben, mussten also hart arbeiten, nur die Beine unter den Tisch stellen gab es nicht.

Zunächst wurden die Flüchtlinge verteilt. Jeder Einheimische, der ein eigenes Haus besaß, bekam je nach Größe der Wohnungen 2 oder mehr Flüchtlinge zugewiesen. Meine Pflegeeltern bekam eine Mutter mit Tochter, der Vater war an der Front. Mit der Tochter, sie heißt Evelyn, habe ich mich angefreundet. Es gab aber noch weitere Verwandte von ihr, die Oma, eine Tante, eine Cousine und ein Cousin, die allerdings alle bei einem Bauern, namens Wegener, Unterkunft fanden. Nachbarn von meinen Pflegeeltern bekamen eine Mutter mit Sohn und Tochter, namens Sigrun, mit der ich mich ebenfalls anfreundete. Der Vater war auch an der Front.

Wir 3 Freundinnen wurden später ein richtig eingeschworenes Team. Sigrun kam aus Ostberlin und Evelyn aus Chemnitz, waren also auch Stadtkinder wie ich. Meinen Eltern und Pflegeeltern wäre es lieber gewesen, wenn ich mich mit den 2 Töchtern von einem Molkereibesitzer angefreundet hätte, also mit Einheimischen. Die ältere hieß auch Christa –wie ich – und war ebenso alt wie ich, aber die war mir damals einfach zu dick und zu bequem; die jüngere, sie hieß Rosi, mochte ich nicht sonderlich. Ich blieb also bei meinen beiden Stadtkindern.

Sie und auch ihre Mütter erzählten mir manchmal von ihrer Flucht, auf der viele den Strapazen nicht gewachsen waren und unterwegs starben. Ich habe ihnen natürlich auch von zu Hause erzählt. Über viele Einzelheiten haben wir uns aber nicht unterhalten. Der Hunger war bei ihnen größer als das Bedürfnis viel zu reden. Handeln war angesagt. Denn sie sind in dem Dorf nicht an einen gedeckten Tisch gekommen, dafür mussten sie selbst sorgen, und ein Sozialsystem wie man es heute kennt, gab es damals nicht. In Kriegszeiten sowieso nicht.

Am 9. Mai 1945 erfuhren wir, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen beendet seien, und die Russen im Osten blieben, und die Amerikaner, Engländer und Franzosen über den Westen verfügten. Wir waren froh, dass wir noch zum Westen gehörten, denn die Russen waren schon bis kurz vor Göttingen. Vor Kriegsende hieß es noch, die Russen seien die größere Gefahr; aber die war ja nun vorbei.

Jetzt hieß es wieder zurück zur Tagesordnung, die Arbeit musste getan werden. Es war spätes Frühjahr und ging auf den Sommer zu, da gab es viel Arbeit. Das Heu – oder besser gesagt das Gras – wurde mit einer Sense gemäht und blieb erst einmal zum Trocknen liegen. Wenn es angetrocknet war, wurde es so oft gewendet, bis es trocken war. Bei dieser Arbeit mussten meine Freundinnen und ich immer mithelfen. Es gab für Kinder sogar extra kleinere Heugabeln. Es gab 2 Schnitte im Jahr, den ersten nennt man Heu und den zweiten Grummet. Wenn das Heu trocken war, wurde es mit Pferd und Wagen eingefahren. Das war immer wieder etwas Schönes, weil wir Kinder dann oben auf dem Fuder sitzen durften oder auf den Pferden. Meine Freundinnen und ich machten vieles gemeinsam. Wir gingen zusammen zur Schule und manchmal nahmen wir nachmittags auch noch zusammen an einem Malunterricht teil. Jeder wollte natürlich immer die bessere sein.

Wenn sie Hunger hatten, kamen sie schon mal zu mir, und ich ging dann zu meiner Pflegemutter und sagte: „Tante Droste könnte ich ein Butterbrot haben, ich habe ja so einen Hunger.“ Das habe ich insgesamt dreimal gesagt, und ich bekam die Butterbrote. Sie hat sich nur gewundert, dass ich auf einmal so viel esse. Einige Zeit später hat sie dann doch gemerkt, für wen die anderen beiden Butterbrote waren. Sie hat es den beiden aber gegönnt.

Eines Tages kamen meine beiden Freundinnen und sagten, dass sie zu den Bauern betteln gehen wollten, ihre Mütter brauchten Eier. Da habe ich ganz klar gesagt, ich komme mit euch, und ihr bekommt auch meine Eier. Bei einigen Bauern hatten wir Glück, der letzte sagte zu mir: „Christa, du bist doch bei Droste, du hast das doch nicht nötig.“ – „Aber meine Freundinnen“, erwiderte ich. – Jetzt weiß ich allerdings nicht mehr, ob ich von diesem Bauern auch Eier bekommen habe. Jedenfalls bei den vorhergehenden Bauern hatte es immer geklappt.

Inzwischen war es Sommer, und das Korn (Hafer, Gerste, Roggen) musste ebenfalls mit einer Sense gemäht werden und einige Zeit zum Antrocknen liegen bleiben. Danach wurde es zu Strohpuppen zusammengebunden, wozu auch wir Kinder wieder mit eingespannt wurden. Das geschah meistens in den Schulferien. Einen Teil der Ferien verbrachte ich bei meinen Eltern in Essen (die Schule in Essen war noch geschlossen), den restlichen Teil musste ich auf dem Land mithelfen.

Im Sommer 1945 marschierten die Amerikaner mit ihren Panzern ein und besetzten das Dorf. Etliche Einheimische wurden ausquartiert. Meine Pflegeeltern, meine Freundin, ihre Mutter und ich, wir konnten im Haus bleiben. Wie lange die Amerikaner blieben, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Dann kam der Herbst, und es mussten Kartoffelkäfer gesammelt werden und wir Kinder, meine beiden Freundinnen und ich, waren auch wieder dabei. Es war alles ein hartes, eingespieltes Teamwork zwischen den Bauern, den anderen Einheimischen, die ihre Fahrzeuge vom Bauern für ihre eigenen Fuder (Heu, Stroh) benötigten, mussten helfen, jetzt auch mit den Flüchtlingen und uns Kindern. Empfindlich durfte man nicht sein.

Die Wintermonate fand ich immer herrlich, Schnee fiel damals noch reichlich, Familienleben und viel Freiheit für uns Kinder gab es pur.

Es kam der Tag, da erfuhr ich von Evelyn, dass ihr Vater gefallen sei. Für ihre Mutter war es fürchterlich. Sie wurde noch depressiver und wurde mit ihrem Leben nicht mehr fertig. Soweit ich mich erinnern kann, war meine Freundin damals erst 8 oder 9 Jahre alt. Aber es gab da noch die Mutter, die Schwester, den Neffen und die Nichte von ihrer Mutter, die ihr beistanden, so dass sie nicht ganz alleine dastand. Auch ich habe getan, was mir als Kind möglich war. Von der anderen Freundin erfuhr ich, dass ihr Vater zurückgekehrt sei.

Anfang April 1948 holten meine Eltern mich wieder ganz nach Hause. Die Verbindung zu meinen Freundinnen blieb noch eine Weile erhalten. Die Mutter von Evelyn verlobte sich zwar nach einiger Zeit mit dem Halbbruder ihres Mannes. Aber ihre Depressionen blieben. Später erfuhr ich von meiner Pflegemutter, dass Evelyns Mutter Selbstmord begangen hat. Ihre Tante hat sie von der Schule abgeholt, und es ihr gesagt. Darauf muss Evelyn wohl gesagt haben: „Mutti, Mutti, wie konntest du mich verlassen.“ Sie war damals erst 12 oder 13 Jahre alt. Meine Tante, die älteste Schwester von meinem Vater, hat sich sofort bereiterklärt Evelyn zu adoptieren. Aber sie wollte nicht, sie wollte lieber bei ihrer Tante und deren Kinder bleiben; ihre Oma war inzwischen auch verstorben.

Als ich ca. 16 oder 17 Jahre alt war, zog Sigrun mit ihren Eltern nach Essen. Ihr Vater hatte hier beruflich zu tun. Sigrun und ich hatten einige Zeit Kontakt gehabt, sind auch mal tanzen gegangen. – Aber dann ging jeder seine eigenen Wege.

Eigentlich schade. Aber unsere Leben sind wohl von Anfang an so unterschiedlich verlaufen, dass man diese Kinderfreundschaft, geprägt durch den Krieg, beim Älterwerden nicht mehr aufleben lassen konnte. Wenn, dann nur mit sehr viel Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verständnis.

C. Goller, Jg. 1938

Letzte Artikel von Brigitte Reuß (Alle anzeigen)

Schreiben Sie einen Kommentar