Meine Kindheit und Zeit in der Hitlerjugend

Meine frühe Kindheit war nicht aufregend. Meine Eltern waren nicht reich, aber auch nicht arm. Wir lebten wie fast alle anderen Familien recht bescheiden. Es reichte, um satt zu werden, die Miete zu bezahlen und hin und wieder etwas Neues zum Anziehen zu kaufen. Ich freute mich Weihnachten über ein kleines Blechspielzeug und vielleicht noch über ein paar neue Schuhe, die die ersten Monate nur Sonntags getragen wurden.

Im Frühjahr und Sommer liefen wir Kinder nur barfuß im Freien herum. Die Straße war unser Spielplatz. Man konnte in den 30er Jahren unbekümmert auf der Straße spielen. Autos waren selten, und wenn eins kam, so hörte man es schon von Weitem. Ein Bierwagen mit Vollgummireifen auf Kopfsteinpflaster war unüberhörbar. Unsere Spiele waren meistens mit großer Lautstärke verbunden. Man spielte Räuber und Gendarm, Cowboy und Indianer oder Völkerball usw. Zur täglichen Hygiene gehörte es, dass ich, nachdem ich den ganzen Tag draußen gespielt hatte, von meiner Mutter ausgezogen wurde, sie  mich in den Spülstein stellte, mich einseifte und mit kaltem Wasser wieder abseifte. Die ganze Prozedur wurde von Gebrüll meinerseits begleitet. Aber sehr erfrischend. Wer hatte damals schon ein Badezimmer?

Das ganz besondere Vergnügen fand immer Sonntag morgens statt: Kindervorstellung im Kino. Ich benötigte meistens eine ganze Woche, um mir 20 Pfennig zusammen zu betteln bei Oma, Tanten Vater oder Mutter. Vor Beginn des Krieges sah man noch Märchenfilme, amerikanische Cowboyfilme mit Shirley Temple, Dick und Doof oder Pat & Patachon.

Im Alter von etwa 6 Jahren begann ich mich für die Hitlerjugend zu interessieren. Wenn die Jugend mit Trommel und Fanfaren in ihren braunen Uniformen durch unsere Straßen marschierten, das beeindruckte uns schon sehr! Und wir marschierten hinterher und versuchten Gleichschritt zu halten.

Ostern 1938 wurde ich eingeschult. Damals hieß es einfach Volksschule. Es wurde zur Einschulung von jedem ein Foto gemacht mit der obligatorischen Schultüte. Da aber kaum jemand das Geld für diese Tüte hatte, brachte der Fotograf eine Tüte mit, mit der jeder einzelne abgelichtet wurde. Unser erstes Schuljahr verbrachten wir fast ausschließlich mit dem Lernen der Sütterlinschrift. Unser erstes Lehrmaterial bestand aus einem Tornister mit einer Schiefertafel, einer Griffeldose mit einigen Griffeln, einer Schwammdose und einem gehäkeltem Lappen zum Trocknen der Tafel. Als erstes das „i“, dann das „o“ und so weiter. Nach einem halben Jahr begannen wir mit ganzen Wörtern. Nachdem wir nun die Sütterlinschrift beherrschten, mussten wir alles vergessen und von Neuem anfangen mit der lateinischen Schrift.

Ein besonderes Datum habe ich nicht vergessen. Wir wohnten zu der Zeit in Essen-West. Es war der 9. November 1938. Ich ging wie jeden Morgen zur Schule. Mein Weg führte über die Altendorfer Straße. An einem uns allen bekannten Textilkaufhaus mit Namen Blum hatte man alle Schaufenster-scheiben zertrümmert und alle Textilien flogen auf die Straße. Eine große Menschenmenge stand auf der Straße und schaute zu. Ich fragte einen Mann, was da passiert, was das bedeute, er antwortete mir: „Das verstehst du nicht, mein Junge, das sind Juden.“ Er hatte recht, ich verstand das tatsächlich nicht. Später verstand es die NS Propaganda geschickt, durch dauernde Vokabeln wie „Die Juden sind unser Unglück“ und mit  diffamierenden Karikaturen in Zeitschriften, wie zum Beispiel „ Der Stürmer“, dem Volk klar zu machen, dass es  tatsächlich so sei.

Nach Ausbruch des Krieges 1939 wurden auch die Filme der Zeit angepasst. Statt Märchenfilme sahen wir sonntags Kriegsfilme. Vor jedem Film gab es die „Deutsche Wochenschau“ mit Berichten von den einzelnen Kriegsschauplätzen. Ich entsinne mich, darin nie einen deutschen gefallenen Soldaten gesehen zu haben, jedoch hunderte Gefallene unserer Feinde. Dass aber auch die deutschen Verluste hoch waren, konnte man in den Tageszeitungen verfolgen. Täglich gab es Dutzende von Todesanzeigen für „Führer Volk und Vaterland“ gefallener Soldaten.

Im Alter von 10 Jahren durfte ich endlich in die DJ (Deutsches Jungvolk) eintreten. Ich war sehr stolz, eine Uniform zu tragen. Der Beitritt zur DJ oder HJ (Hitler-Jugend) war  gezwungenermaßen freiwillig. Wer aber nicht beitrat, wurde diffamiert und gemieden. Andererseits wurde uns Kindern aber auch viel geboten: Kameradschaft, Geländespiele, gemeinsames Singen und vieles mehr. Das dieses eigentlich dazu diente, uns frühzeitig für die Wehrmacht fit zu machen, erkannte ich erst gegen Kriegsende.

Es gab nationale Feiertage, die wurden pompös und grandios inszeniert: Der erste Mai (Tag der Arbeit) oder der 20. April, das war der Geburtstag Adolf Hitlers. Aus fast jedem Fenster hingen dann Hakenkreuzfahnen, die Marktplätze waren mit Birkengrün geschmückt und Kolonnen von SA und SS Hitlerjugend und Deutsches Jungvolk, die man damals Pimpfe nannte, marschierten mit Marschmusik durch die Straßen. Auf den Aufmarschplätzen hielt ein Parteibonze höheren Ranges eine markige Rede, und alle schrien „Sieg Heil“. Fast alle!! – Für uns Kinder und Jugendliche war das alles sehr beeindruckend, und wir glaubten an das, was man uns täglich vorbetete.

Nach und nach kam der Krieg auch zu uns, zunächst als vereinzelte Luftangriffe der englischen Air Force. Nachdem die Sirenen Luftalarm gemeldet hatten, standen wir am Fenster und schauten zu, wie zig Flakscheinwerfer den Himmel absuchten. War erst einmal ein Flugzeug in den Lichtkegel geraten, wurde es fast jedes Mal abgeschossen.

Dann kam der 5. März 1943. Fliegeralarm. Wir standen wieder am Fenster. Doch dann hörten wir plötzlich ein unheimlich lautes Brummen und  Dröhnen am Himmel.  Pfadfinderflugzeuge warfen sogenannte Christbäume ab, und das ganze Zielgebiet war taghell erleuchtet. Unser Haus stand direkt gegenüber den Krupp-Werken. Auf diese hatten es die Englischen Bomber abgesehen. Zirka 500 dieser Bomber luden ihre Brand- und Sprengbomben über unseren Stadtteil ab. Wir sind dann  ganz schnell in den Keller geeilt, ohne unsere schon seit Monaten gepackten Koffer mitzunehmen. Draußen herrschte ein infernalischer Lärm. Bomben fielen ohne Unterlass, die Flak schoss aus allen Rohren. Doch ganz plötzlich war es für einige Sekunden unheimlich still. Dann brach mit einem gewaltigen Getöse die Hölle los. Das Licht erlosch, die Luft voller Staub, Wasser lief aus geborstenen Rohren. Alle schrieen wild durcheinander. Eine Luftmine war in unserem Hof explodiert und hatte unser vierstöckiges Haus total zerstört.

Meine Mutter nahm mich an der Hand, und wir kletterten im Dunkeln über die Reste unserer Kellertreppe. Draußen war es taghell. Nachbarhäuser standen in Flammen. Bomben fielen ununterbrochen. Wahrscheinlich hatten meine Mutter und ich eine ganze Kompanie von Schutzengeln. Wir erreichten wie durch ein Wunder einen Hochbunker in etwa 500 Meter Entfernung. Meine Mutter schlug mit einem Stein an die Stahltür des Bunkers, und wir wurden eingelassen. Im Bunker, mit meterdicken Betonmauern war vom Lärm draußen nur wenig zu hören. Wir beide sahen aus wie Mühlenarbeiter, von Kopf bis Fuß weiß vom Mörtelstaub.

Um etwa 5 Uhr morgens ließ man uns raus. Wir erkannten unseren Stadtteil Essen-West nicht wieder. Nur rauchende Trümmer, ein infernalischer Brandgeruch. Ich stand nun mit meiner Mutter vor einem riesigen Schutthaufen der mal unser Haus war. Meine ganze Habe bestand nur aus einem Schlafanzug, Pantoffeln, einem Mantel und einer Mütze. Dank einiger Bezugsscheine bekam ich einige wenige neue Textilien. Wir übernachteten einige Tage jedes Mal bei einem anderen Verwandten.

Am 25. März 1943 begab ich mich mit noch 2000 anderen Kindern zum Hauptbahnhof Essen, Kinderlandverschickung. Man verfrachtete uns wahllos in die Personenwagen, und die Fahrt ging in das Protektorat Böhmen und Mähren (Tschechien). Unterwegs wurden wir aufgeteilt für die einzelnen KLV-Lager. Ich hatte Glück und kam mit 60 anderen Jungen für die nächsten zwei Jahre in das KLV-Lager Raab bei Pardubitz.

Horst Rübenkamp

März 2015
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2 Gedanken zu „Meine Kindheit und Zeit in der Hitlerjugend“

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