Das Dritte Reich entlässt seine Kinder

Ich heiße Christa Goller und wurde am 7. April 1938 in Essen geboren. Als die kriegerischen Auseinandersetzungen am 9. Mai 1945 beendet wurden, war ich gerade mal 7 Jahre alt. Da ich ständig erkältet war und Mandelentzündungen hatte, haben meine Eltern mich allerdings schon Januar 1944 zu Pflegeeltern aufs Land gebracht. So verbrachte ich also die Nachkriegszeit von Mai 1945 bis März 1948 bei meinen Pflegeeltern in einem kleinen Dorf im Solling/Weserbergland am Harz. Meine Mutter sah ich während dieser Zeit nur wenige Tage im Monat und meinen Vater nur einmal im Jahr und zwar wenn er Urlaub hatte.

In diesem Dorf blieben wir zwar von Bombenangriffen verschont, aber nicht von Flüchtlingsströmen und dem Einmarsch der Amerikaner. Zuerst waren es deutsche Soldaten, die vor den Russen und Amerikanern flüchteten. Sie hatten Angst vor einer Gefangenschaft. Meine Pflegeeltern, sowie noch einige Dorfbewohner nahmen einen Soldaten auf. Die deutschen Soldaten blieben nur einige Tage, denn die Amerikaner waren im Anmarsch und kamen unserem Dorf immer näher. 

Danach folgten Flüchtlingsströme aus Sachsen, Schlesien, Ostberlin etc. Sie flohen vor den Russen und suchten in unserem Dorf eine neue Heimat. Aber auch die Russen waren schon bis kurz vor Göttingen – ca. 1 Stunde von unserem Dorf entfernt. Sie waren uns ebenfalls beträchtlich nahe.

Den Flüchtlingen wurde es im Dorf anfangs sehr schwer gemacht, da man sie für Zigeuner hielt. Alles, was aus dem Osten kam, waren für die Einheimischen Zigeuner. Es hat lange gedauert, bis sie die Situation richtig einschätzten. Echte Zigeuner gab es aber auch zu Genüge, die den Einheimischen das Leben manchmal zur Hölle machten. Sie haben meinen Pflegeeltern im Morgengrauen mal alle Hühner geklaut.

Die Flüchtlinge wurden im Dorf verteilt. Unter Murren haben etliche Einheimische Flüchtlinge aufgenommen. Das Leben in einem Dorf und dann noch bei einem Bauern, war schwer zu der damaligen Zeit. Es war ein hartes Leben, sogar Kinder wurden in den Ferien hart rangenommen und oft auch noch nach Schulschluss. Vieles musste mit der Hand gemacht werden, da es damals noch nicht so viele Landmaschinen und -fahrzeuge gab wie heute.

Meine Pflegeeltern haben eine Mutter mit Tochter aufgenommen, der Vater war eingezogen und kehrte nicht mehr zurück. Er fiel an der Front wie viele andere auch. Eine weitere Mutter mit Tochter und Sohn wurde von einer Nachbarin meiner Pflegeeltern aufgenommen. Der Vater dieser Kinder kehrte wieder zurück.

Mutter und Tochter bei meinen Pflegeeltern kamen aus Chemnitz/Sachsen; die Oma aus Hirschberg / Schlesien – wohnte bei einem Bauern, ebenso deren Tante, Cousine und Cousin. Die andere Mutter (mit Tochter und Sohn) kamen aus Ostberlin. Mit den Kindern der beiden Mütter habe ich mich nach kurzer Zeit angefreundet. Ich war zu der Zeit 7 Jahre alt. Sie haben mir auch schon mal von ihrer Flucht erzählt. Sie muss furchtbar gewesen sein. Wir waren ja alle Stadtkinder und hatten also ähnliche Schicksale. Aber die Schicksale der Flüchtlinge waren weitaus schlimmer, da sie auf der Flucht u. a. auch Tote gesehen haben, Menschen, die die Strapazen einer Flucht nicht geschafft haben. Meine Freundinnen waren damals erst 5 oder 6 Jahre alt, als sie mit ihren Müttern aus ihrer Heimat flüchteten.

Inzwischen erfuhren wir, dass der Krieg beendet sei – Mai 1945 – und die Russen im Osten blieben und nicht weiter in unsere Richtung einmarschieren würden. Die Gefahr war nun gebannt. Alles atmete auf.

Dann kam der Tag, an dem die Amerikaner mit ihren Panzern in unser kleines 3000-Seelen-Dorf einmarschierten. Es war Ende Frühjahr oder Anfang Sommer 1945. Sie haben die Einheimischen massenweise aus ihren Häusern ausquartiert. Sie mussten sich bei Verwandten oder Bekannte einquartieren. Meine Pflegeeltern brauchten aus ihrem Haus nicht raus – das war ihnen wohl nicht groß genug – aber der Vater und Bruder mit Familie von meiner Pflegemutter mussten aus ihrem Haus raus. Ob meine Pflegeeltern nun die ganze Familie aufgenommen haben, weiß ich nicht mehr so genau. In unserem Haus gab es ja auch noch Flüchtlinge, Mutter mit Tochter. Jedenfalls gab es ein ganz schönes Gedränge.

Wie lange die Amerikaner in unserem Dorf blieben kann ich nicht mehr so genau sagen.

Eines Tages erfuhr ich von meiner Pflegemutter, dass meine Mutter mit ihrer Schwägerin kommen würde, um mich in den Schulferien – Sommer 1945 – mit nach Hause in Essen zu nehmen. Sie führten einen Kinderwagen mit, der gefüllt war mit Hamsterware. Auf der Strecke von Essen bis Schoningen mussten sie teilweise laufen, da der Viadukt in Altenbeken und eine Brücke in der Nähe unseres Dorfes gesprengt waren, über die der Zug hätte fahren müssen, um in unsere ländliche Gegend zu kommen. Sie versuchten auch, in unserem Dorf Nähseide in Fleisch, Butter etc. umzusetzen, aber da hatten sie nicht viel Glück. Die meisten Einheimischen brauchten keine Nähseide.

Jetzt war es also soweit, dass ich mit meiner Mutter und meiner Tante nach Essen fahren durfte. Da wir nun mal nicht mit dem Zug bis nach Essen fahren konnten – aber laufen wollten wir auch nicht – so wurde also ein Fahrer mit Lastwagen gemietet, der uns bis Essen bringen sollte. Natürlich ein Lastwagen ohne Verdeck, der vielleicht 30/40 PS hatte, wenn überhaupt. Wir waren ca. 10 oder 12 Personen, und alle führten Hamsterware mit sich.

So tuckerte nun unser Fahrer über die Landstraßen. Übernachtet wurde mit vorheriger Genehmigung des Bauern in einer Scheune. Am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter Richtung Essen. Es war eine abenteuerliche Fahrt, die 3 Tage dauerte.

Langsam näherten wir uns den ersten größeren Städten, bis wir dann in Essen ankamen. Während der Fahrt war ich schon ganz aufgeregt und überlegte, wie mag diese Stadt wohl aussehen. Ich war zu dem Zeitpunkt 7 Jahre alt. Dann sah ich sie. Ich habe einen Schrecken bekommen. Es waren fast nur Trümmer zu sehen. Unser Wohnblock Mülheimer Straße/Kruppstraße stand aber noch.

Aber es gab in den Wohnungen kein Wasser. Also wurden auf den Straßen die Wasserleitungen angezapft, ein Rohr darauf gesetzt und ein Wasserhahn, dann konnte man Wasser in Gefäße füllen.

Es gab keine Kohlen, damals wurde ja noch mit Kohlen geheizt. Gas- oder Ölheizung so wie wir es heute kennen, gab es noch nicht. Wenn man Kohlen haben wollte, dann musste man Verwandte oder Bekannte haben, die auf einer Zeche arbeiteten, oder man musste Kohlen von Waggons klauen, die in der Nähe von Bahnhöfen standen.

Keine Straßenbahn fuhr, Schienen und Bahnen waren zerstört. Egal, wo man hinwollte, es ging alles nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad – falls man eines hatte. Es hat lange gedauert, bis die Bahnen zumindest wieder so fuhren wie vor ihrer Zerstörung.

Alle Schulen waren geschlossen und teilweise auch zerstört. Die Lehrer waren in Gefangenschaft. Es war wirklich alles ein Drama.

Nun blieb ich aber noch nicht bei meinen Eltern in Essen, sondern musste zu meinen Pflegeeltern zurück, da die Ferien um waren und die Schule wieder anfing.

Als ich im Jahr darauf – 1946 – in den Sommerferien von meiner Mutter erneut geholt wurde, konnten wir wieder mit dem Zug fahren; das hieß aber, dass wir 3 – 4 mal umsteigen mussten. Die Züge waren brechend voll, die Menschen hingen wie die Trauben an Fenstern und Türen. Alles war unterwegs zum Hamstern. Meine Mutter, noch eine Dame und ich fanden nur Platz in einem Vorbau, der am Anfang und/oder am Ende eines Waggons war. Zu diesem Vorbau führte eine Art Feuerleiter, über die wir klettern mussten. Fensterscheiben gab es keine, somit war es eine zugige Angelegenheit. Dort mussten wir bis zu unserem Zielbahnhof stehen.

Ob ich jedes Mal meine ganzen Ferien bei meinen Eltern verbracht habe, das weiß ich nicht mehr so genau, ich glaube eher nicht. Wir Kinder wurden in dem Dorf bei der Landarbeit ebenfalls mit eingespannt, denn in den Sommermonaten gab es viel zu tun. Meine Mutter brachte mich also wieder zu meinen Pflegeeltern.

Im April 1948 war es dann soweit: Meine Eltern holten mich für ganz nach Hause. Es war für mich eine große Umstellung. In dem Dorf war ich ein ziemlich freies Leben gewohnt, und zu Hause wurde ich durch meinen Vater strenger erzogen. Eine gewisse Ordnung musste nun mal sein. Als Kind ist man ja noch nicht so einsichtig, das kommt meistens mit dem Älterwerden.

In Essen waren die Schulen jetzt auch wieder geöffnet und ich ging ab April 1948 in die Berliner Schule und kam gleich ins 4. Schuljahr.

Die nächste Umstellung war am 20. Juni 1948, ich war 10 Jahre alt. Meine Mutter nahm mich an die Hand, und wir gingen zu meinen Großeltern. Auf dem Weg dorthin – auf der Kruppstraße, nahe Straßenbahndepot, heute A 40 – sah ich auf dem Bürgersteig einen Geldschein liegen (2 ½ RM), hob ihn auf und zeigte ihn meiner Mutter. Sie sagte: „Den kannst du ruhig liegen lassen, der ist nichts mehr wert. Wir hatten in der Nacht eine Geldentwertung und können ab heute nur noch mit DM bezahlen“. Eine negative Erfahrung nach der anderen. Aber wir gingen ja weiter zu den Großeltern, und das war wieder etwas Positives für mich.

Es gab noch ein schulisches Problem für mich, mein Deutsch war miserabel. Ich musste mir erst einmal meinen Dialekt, das Plattdeutsch, abgewöhnen. Denn ich schrieb alles so, wie ich es auch aussprach und im Harz gelernt habe. Im Diktat machte ich locker 80 Fehler. Mein Vater sorgte dafür, dass ich bei meinem Klassenlehrer nach Schulschluss noch Nachhilfe in Deutsch bekam. Ich musste also Hochdeutsch in Wort und Schrift lernen. Mündlich ging es schneller, aber mit dem Schriftlichen hat es ein Jahr gedauert. Ich hatte Gott sei Dank einen verständnisvollen Lehrer.

Innerhalb eines Jahres beherrschte ich also Hochdeutsch in Wort und Schrift.

Danach schickte mich mein Vater auf die Mittelschule. Er hatte es gut gemeint. Allerdings meinte vorab mein Klassenlehrer zu mir, es wäre besser, wenn dein Vater noch 1 Jahr warten würde, ich würde es seelisch wahrscheinlich noch nicht schaffen. Das war im April 1949.

Leider bekam meine Klasse auf der Mittelschule eine weniger verständnisvolle Klassenlehrerin für die Hauptfächer Mathematik und Deutsch. Ihr Name war Rose, der gar nicht zu ihr passte. Sie hatte zu viel mit sich selbst zu tun. Es hieß, ihr Verlobter sei im Krieg gefallen. Somit hatte sie wenig Verständnis für kriegsgeschädigte Kinder. Sie wurde bei jeder Kleinigkeit aggressiv, und ich musste bei jeder Kleinigkeit weinen und entsprechend waren auch die Noten. Allerdings hatten wir eine sehr nette und verständnisvolle Englischlehrerin. In der Englischstunde war ich mit Begeisterung dabei und hatte auch gute Noten. Aber die Englischlehrerin allein war nicht maßgebend und so ergab es sich, dass ich nach einem halben Jahr wieder zur Volksschule zurück musste. Spätestens nach 3 Jahren gingen weitere Schülerinnen wegen Frau Rose von der Schule. Somit hatte mein Klassenlehrer von der Volksschule Recht behalten. Auf der Volksschule gab es wieder angenehmere Lehrer. In den letzten ca. 3 Jahren hatte ich zwar einen strengen aber sehr gerechten Lehrer, bei dem das Lernen wieder Spaß machte.

Was also die damaligen Politiker den Kindern im 3. Reich alles zugemutet haben – angefangen mit den 15/16/17-jährigen Jungen – dazu gehörten auch 2 Cousins von mir, die an die Front geschickt wurden und später in Gefangenschaft gerieten, nur ein Cousin kehrte zurück – über Säuglinge und Kleinkinder, die mit ihren Müttern auf der Flucht waren, der Vater eingezogen – Säuglinge und Kleinkinder, die mit ihren Müttern in Bunkern oder Luftschutzkellern wegen der Bombenangriffe mussten – bis zu der Zeit, die nach dem Krieg kam, dafür gibt es keine Worte. Verantwortungslos ist noch zu milde ausgedrückt.

Das Traurige ist, dass es z. Z. in den arabischen Ländern furchtbare kriegerische Auseinandersetzungen gibt und wieder sind es die Kinder, die sich selbst nicht helfen können, die Dummen.

Christa Goller

November 2015
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