Ein Beitrag unseres Zeitzeugen Ernst van Megern
Wilhelm von Gehlen, Sprecher des Arbeitskreises Stolpersteine von der Mülheimer Initiative für Toleranz in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv, war am 20. Januar zu Gast bei der Mülheimer Zeitzeugenbörse. Er berichtete uns gebannt zuhörenden Zeitzeugen von den in vielen Ländern verlegten Stolpersteinen, die seit 2004 auch in Mülheim an das Schicksal jüdischer Mibürger erinnern (die ersten Steine wurden am 18.12.2004 verlegt), die in den Zeiten des Nationalsozialismus deportiert und ermordet wurden. Das Leitmotiv der Stolpersteine besteht hierbei darin, den NS-Opfern, die von den Nazis in den Konzentrationslagern zu Nummern degradiert wurden, ihre Namen zurückzugeben. Insgesamt wurden in Mülheim bisher 123 Stolpersteine verlegt.
Die quadratischen, etwa 10×10 Zentimeter großen Betonklötze, auf deren Oberseite eine individuell und von Hand beschriftete Messingplatte angebracht ist, die durch rechts und links umgebogene Flächen fest mit dem Gesamtstein verankert ist, werden grundsätzlich vor dem letzten vom Opfer frei gewählten Wohnsitz auf dem Bürgersteig verlegt; nur, wo die Stadtstruktur und die Straßen mit dem Wiederaufbau zum Teil neu ausgerichtet werden mussten, finden sie sich – so auch in Mülheim – auf oder vor entstandenen Freiflächen wieder. So beispielsweise im Falle der heutigen Rheinischen Straße in Mülheim, die heute unter anderem dort verläuft, wo sich früher die Charlottenstraße befand. Durch den großen Bombenangriff am 22./23. Juni 1943 wurde die Innenstadt fast vollständig zerstört. Im Zuge der Neugestaltung der nördlichen Innenstadt ist die Charlottenstraße aus dem Stadtplan verschwunden. Wollte man jetzt also am früheren Wohnort der Opfer einen Stolperstein verlegen, befände der sich auf dem Mittelstreifen der beiden Fahrbahnen.
„Stolpersteine“ heißen sie im Übrigen deshalb, weil sie den Betrachter über das niveaugleich mit dem Pflaster verlegte Mahnmal tatsächlich nicht körperlich, aber mit dem Herzen und mit den Augen „stolpern“ lassen. Und da der Betrachter des Stolpersteines sich bücken muss, um die Texte lesen zu können, verneigt er sich hierbei gleichzeitig und symbolisch vor den Opfern.
Bevorzugt wohnten seinerzeit die Juden in Mülheim mitten in der Stadt; beispielsweise auf dem Kohlenkamp, auf dem Löhberg, auf der Auerstraße, auf der Hindenburgstraße (heute die Friedrich-Ebert-Straße), auf der Adolf-Hitler-Straße (heute die Friedrichstraße) auf der Charlottenstraße, auf der Bahnstraße und auf der Eppinghofer Straße sowie auch im Dichterviertel. Aber auch in anderen Stadtteilen, zum Beispiel in Broich, auf der Duisburger Straße und auf der Hermannstraße sowie in Saarn auf der Düsseldorfer Straße hatten sie ihr Domizil. Und pervers war die seinerzeitige Vorgehensweise der Nazis im Vorfeld der Deportation. Sie zwangen nämlich ihre Opfer, ihre bisherigen Wohnstätten zu verlassen und in so genannte Judenhäuser umzuziehen. Für die Nachbarn der Betroffenen sah das dann zunächst wie ein normaler Umzug aus, was aber ganz anders gedacht war. Die Nazis konzentrierten ihre Opfer an bestimmten Orten, um sie dann umso einfacher in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Konzentrationslagern zuzuführen. Zehn so genannte Judenhäuser gab es vornehmlich in der Innenstadt (Löhstraße, Delle, Bahnstraße, Eppinghofer Straße …).
Die damals stellvertretende Schulleiterin der Realschule Stadtmitte Judith Koch begann in der Vorbereitung auf das im Jahr 2004 zu feiernde Fest zum 75-jährigen Jubiläum ihrer Schule mit Schülerinnen und Schülern ihrer Schule Recherchen für die ersten zu verlegenden Stolpersteine in Mülheim anzustellen. Dabei versuchten sie das Schicksal ehemaliger Schülerinnen und Schüler dieser Schule zu beschreiben. Sieben Schülerinnen und Schüler dieser Schule wurden von den Nationalsozialisten ermordet. An sie erinnern die sieben am 18.12.20404 verlegten „Stolpersteine“. Frau Koch ist damit zur Initiatorin für die Verlegung von Stolpersteinen in unserer Stadt geworden.
Die bisher in Mülheim verlegten 123 Steine erinnern an 122 Menschen, die durch Maßnahmen des damaligen NS-Regimes ihr Leben verloren haben. Für Elfriede Löwenthal – sie war damals Lehrerin der Volksschule an der Mellinghofer Straße – wurde ein Stein „doppelt“ verlegt, und zwar vor der heutigen Realschule Mellinghofer Straße und vor dem zuletzt von ihr, ihrer Mutter und ihrer Schwester bewohnten Haus in der Bahnstraße 44.
Zur Geschichte der Stolpersteine, bundes- und weltweit, hatte von Gehlen vor Beginn seiner Ausführungen über Mülheim, bereits viele interessante Einzelheiten und Daten uns als Zeitzeugen näher gebracht:
- 1990, zum 50. Jahrestag der Deportation von 1000 Roma und Sinti aus Köln, zog der Künstler Gunter Demnig mit einer als Druckmaschine zu bezeichnenden Vorrichtung durch die Stadt Köln, folgte den damaligen Deportationswegen und markierte sie.
- 1992 ließ er aus gleichem Anlass einen ersten mit einer Messingplatte versehenen und beschrifteten Stein vor dem Historischen Kölner Rathaus in das Pflaster ein.
- In den Folgejahren und in Ausdehnung auf alle Verfolgtengruppen entwickelte Gunter Demnig sodann das Projekt „Stolpersteine“: Steine, über die man stolpert und die uns heute an das traurige Schicksal vieler jüdischer Mitbürger erinnern.
Die erste Verlegung von Stolpersteinen in Köln wurde seinerzeit von vielen Kölnern abgelehnt und bis heute wird, wenngleich vereinzelt, immer wieder auch Kritik zur Verlegung von Stolpersteinen geäußert. Die prominenteste und vehementeste Gegnerin des Projektes ist hierbei Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sie hält es für unerträglich, dass die Namen ermordeter Juden auf Tafeln zu lesen sind, auf denen mit Füßen herumgetreten wird. Auch kritisiert sie, dass bei einer Verlegung der Gedenksteine im Boden diese beschmiert oder verunreinigt werden könnten. Nachrichtlich wusste von Gehlen in diesem Zusammenhang zu berichten, dass in Mülheim ein Stolperstein schon einmal mit roter Farbe beschmiert wurde, den man mit Verdünnung wieder gesäubert hätte; eine Strafanzeige gegen „Unbekannt“ sei zudem angestrengt worden.
Städte, die die Verlegung von Stolpersteinen ablehnen, berufen sich daher zumeist auf die Kritik von Knobloch oder machen die Zustimmung zur Verlegung von einem positiven Votum ihrer jüdischen Gemeinde abhängig. Das bekannte Beispiel München wurde vom Berichterstatter von Gehlen in diesem Zusammenhang hervorgehoben. Die beiden einzigen auf öffentlichem Grund in München von Gunter Demnig verlegten Stolpersteine wurden seinerzeit wieder entfernt, weil der maßgebliche Teil der jüdischen Gemeinde sich gegen diese Stolpersteine ausgesprochen hatte und auch der Münchner Stadtrat 2015, seinen Beschluss von 2004 bestätigend, sich erneut gegen die Stolpersteine auf öffentlichen Plätzen entschieden hat.
Zur Zeit gibt es in München nur einige Stolpersteine auf Privatgrund. Mitunter jedoch, so wusste von Gehlen in diesem Zusammenhang zu berichten, kritisieren aber auch Hausbesitzer oder Mieter, dass vor ihren Häusern die Stolpersteine verlegt wurden oder werden, da sie eine Wertminderung durch die Stolpersteine befürchten.
Bisher wurden in der Bundesrepublik über 56.000 Steine in zahlreichen Städten und Gemeinden verlegt. Und da die Stolpersteine dem Straßenstaub und auch den Exkrementen von Hunden ausgesetzt sind, haben regionale Vereine und Initiativen schon oft angeregt, Reinigungspläne zu erstellen; auch in Mülheim zeigt man Augenmerk für reinigungsbedürftige Stolpersteine.
Die Verlegung von Stolpersteinen kann inzwischen in 18 Ländern der Welt registriert werden; hierzu gehören beispielsweise die Niederlande, Tschechien, Italien, Schweiz und Spanien, aber auch überseeische Staaten.
Bleibt noch hervorzuheben:
Die Zeitzeugen bedanken sich ganz herzlich bei Wilhelm von Gehlen für seine interessanten und lehrreichen Ausführungen!
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