Mein Name ist J. Loose, und ich wurde im Herbst 1949 geboren. Zu dem damaligen Zeitpunkt ging es vielen Menschen finanziell nicht so gut, sodass durch Anschaffungen für die notwendigste Kleidung immer ein großes Loch in den Geldbeutel gerissen wurde. Zu Beginn der 50er Jahre hätte das Motto auch heißen können: aus Alt mach Neu – oder: In der Not frisst der Teufel Fliegen. In dieser harten Zeit gab es viele Menschen, die in gestopfter oder mit Flicken besetzter Kleidung einfach zum Allgemeinbild gehörten. Es war somit naheliegend, dass vieles in Eigenarbeit improvisiert, ausgebessert und angefertigt werden musste. Meine Mutter war in dieser Hinsicht geradezu genial. Es gab keine Art von Handarbeiten, die sie nicht beherrschte. Sehe ich mir heute die Fotoalben von damals an, muss ich feststellen, dass ich schon im kleinsten Kindesalter von Kopf bis Fuß in selbst gestrickter oder gehäkelter Babykleidung zu sehen bin.
Diese Tradition des Selbermachens wurde in den nächsten Jahren wohl zu einer Hauptaufgabe meiner Mutter, denn ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals ohne eine Handarbeit gesehen zu haben. Jedes Stück Stoff oder schon getragene Kleidung wurde umfunktioniert und so auseinander geschnitten, damit für mich neue Kleidung geschneidert werden konnte, ein Kleid, ein Rock oder ein Mantel. Natürlich wurde die Wolle für Pullover oder Strickjacken selten neu gekauft, sie war einfach Mangelware und zu teuer. So wurden in gemeinsamer Heimarbeit ältere Wollteile komplett aufgeriffelt. Der große Berg, der daraus entstandenen krausen Wolle wurde sehr stramm auf ein großes Holzbrett gewickelt und vollständig nass gemacht. Im Sommer wurde dieses Wollbrett draußen an der Luft und in der kühleren Jahreszeit in der Nähe des wärmenden Ofens getrocknet. Es dauerte einige Tage, bis die Wolle trocken war, und dann konnte sie vom Holzbrett weg zu einem großen Wollknäuel aufgewickelt werden. Dann wurde bei mir Maß genommen, ein neues schönes Teil ging in Produktion. War z.B. nicht ausreichend Wolle für den Pullover vorhanden, so wurde eine andere Wollsorte mit verwendet und als Muster eingestrickt. Auch Schals, Mützen, Handschuhe als Fäustlinge, verbunden durch eine lange Kordel, welche durch die Mantelärmel gezogen wurde, sowie die warmen Wollsocken gehörten zur Ausstattung.
Dies blieb nicht immer so, denn im Laufe der Jahre kamen die ersten Handarbeitsgeschäfte auf den Markt, und meine Mutter war da ständiger Gast. Die Woll- und Stoffangebote wurden immer vielfältiger, und die ersten Handarbeitshefte mit Strick – und Häkelanleitungen lagen zum Kauf auf den Theken. Desgleichen gab es auch für Näharbeiten Sonderhefte mit beigelegtem Schnittmusterbogen. Bis etwa zu meinem 5. Lebensjahr nähte meine Mutter meine Kleidchen, Röcke und Schürzen ohne jegliche Arbeitsanleitungen, aber als meine Einschulung vor der Türe stand, sah es auf unserem Wohnzimmertisch oft aus wie in einer Schneiderei, denn ich bekam einen tollen grünen Mantel mit Pelzkragen und einen Faltenrock genäht. Übrigens hergestellt aus einem alten Mantel meiner Mutter und einem abgelegten Rock einer Tante. Dazu einen wunderschönen Angorapullover. Was war ich damals stolz darauf!
Ich erwähnte eben die Schürzen, ja, die gehörten früher dazu, wenn wir als Mädchen draußen gespielt haben. Damit musste unsere Kleidung geschützt werden, damit sie nicht so schnell schmutzig wurde. Wochentags war es eine bunte und am Sonntag eine feine weiße Batistschürze mit ganz zarter, selbst gehandarbeiteten Stickereien.
Erlebnisse der besonderen Art waren Besuche bei meinem Großonkel, der eine Herrenschneiderei besaß. Dort stöberte ich immer herum, ganz besonders dort, wo all die feinen Stoffballen auslagen. Sie fühlten sich so weich und edel an. Zu meiner großen Freude schenkte er mir manches Mal auch ein Reststück, welches für ihn keine Verwendung mehr hatte, aber für mich reichte es entweder zu einer Weste oder zu einem kurzen Jäckchen.
Gängig, wenn auch nicht so beliebt war, dass die jüngeren Geschwister damals die Garderobe der älteren auftragen mussten. Hosen und Ärmel wurden einfach aufgekrempelt und Steppnähte hinzugefügt. Sicherlich schmunzelt man heute über diese Bilder in den Fotoalben, aber sie sind Zeugen der Zeit. Da Knöpfe sehr teuer waren, wurden sie von allen Kleidungsstücken, die nicht mehr getragen wurden, abgetrennt und bis zur Wiederverwendung in einer Dose im Nähkästchen aufbewahrt. Wenn dieser aufklappbare Holzkasten im Einsatz war, dann war er für uns Kinder ein wunderbares Spielzeug. Er wurde kurzerhand als Kaufmannsladen umfunktioniert. Die Knöpfe waren das Geld.
Auch war es üblich, dass jedes entstandene Loch sowohl in der Unterwäsche als auch in den Strümpfen gestopft wurde. Ebenso mussten in regelmäßigen Abständen die Bundgummibänder der Unterhosen erneuert werden, denn sie leierten sehr schnell aus. Zu diesem Zweck war an einer Stelle des Bundes eine Art Knopfloch, wo man mit Hilfe einer Sicherheitsnadel das neue Band einfädeln und durchziehen konnte. Diese Zick-Zack-Gummibänder wurden an allen Ecken der Marktstraße in Oberhausen von Kriegsspätheimkehrern mit ihren Bauchläden verkauft. Dort erhielt man auch Schnürsenkel, Wäscheknöpfe und Pflaster. Waren an den Herrenhemden die Manschetten oder die Kragen verschlissen, das heißt ausgefranst, so wurden diese vorsichtig abgetrennt, auf links gedreht und wieder angenäht.
Auch für sich selbst nähte und strickte meine Mutter. Mein Vater wurde ebenfalls nicht vergessen, und er bekam ebenfalls Pullover und Strickjacken. Meine Mutter hat mir ungefähr bis zum zwölften Lebensjahr immer meine Kleidung genäht, wobei ich mich immer gefragt habe, wie man so komplizierte Dinge so geschickt umsetzen konnte. An ein Kleid erinnere ich mich ganz besonders. Es war aus einem ganz feinen leichten Stoff und hatte etwa linsengroße rote Punkte. Das Oberteil war ärmellos, hatte in der Mitte eine rote Knopfreihe und der Rock war in der Taille enger und wurde nach unten leicht ausgestellt. Darunter war ein leichter Petticoat, und um die Taille wurde ein rotes Samtband so gebunden, das hinten eine Schleife war. Dazu bekam ich weiße Schuhe und Söckchen. Ich hätte es am liebsten nicht mehr ausgezogen.
Was ich nicht gerne gemocht habe, waren die Leibchen, die ab der kühleren Jahreszeit zum Einsatz kamen. Diese wurden über dem Unterhemdchen getragen, sie mussten im Vorderteil geknöpft werden und hatten am vorderen sowie seitlichen Rand Strumpfhalter, woran die langen Wollstrümpfe festgemacht wurden. Da ich nicht frieren sollte, denn ein kleines Stück vom Oberschenkel blieb ja frei, musste man noch eine selbst gestrickte Wollhose darüber ziehen, die meistens sehr kratzig war. Was war ich froh, als die ersten Wollstrumpfhosen für Kinder auf den Markt kamen. Während des Winters wurden zum knöchellangen Flanellnachthemd ein Bettjäckchen und wärmende Bettschuhe getragen, da es bei uns keine Zentralheizung im Schlafzimmer gab, die Räume sehr kalt und bei Frost sogar Eisblumen an den Fenstern waren.
Ein anderes Mal überraschte mich meine Mutter mit einem – auf ganz dünnen Stricknadeln und feinem Garn hergestellten weißen Halbglockenrock und dazu gehörenden hellblauen Angora-Pullover. Diese beiden Teile werde ich ebenso, wie schon das erwähnte Kleid, immer in meiner Erinnerung behalten. Sehr viel Zeitaufwand wurde von meiner Mutter damit verbracht, schöne Tischdecken, Kissenbezüge, Gobelin-Bilder zu besticken, um die Wohnung zu verschönern. Auch aus heutiger Sicht gesehen, sah alles sehr edel aus, da immer die filigrane Art der Handarbeit im Vordergrund stand.
Was das Tragen von Schuhen anbelangte, so legten meine Eltern immer Wert auf gute Qualität, und da wurde auch nicht auf die Mark geschaut. Allerdings bezog sich das auch auf die Pflege des Schuhwerks. Gekauft wurde immer in einem Schuchfachgeschäft in Oberhausen, damals war es das Schuhhaus Rüter. Dort gab es nicht nur Schuhe, sondern sie hatten dort eine Rutschbahn für Kinder, da wurde es uns Kleinen nicht langweilig, wenn sich die Eltern auch noch Zeit für ihren Einkauf nahmen.
Das Können und die Fähigkeit für alle Arten von Handarbeiten habe ich mir von meiner Mutter schon im Kindesalter von fünf Jahren abgeguckt, denn schon zum damaligen Zeitpunkt fing ich an, kleine Deckchen zu besticken und bis zum heutigen Tag bin ich in punkto Handarbeiten sehr geschickt.
Ich bin froh, dass wir heute in einer frischen, aufgelockerten und farbenfrohen Modewelt leben können, wo jeder nach seinem Geschmack und Geldbeutel etwas finden kann. Auch für Leute der älteren Generationen gibt es heute die Möglichkeit, sich elegant, chic oder sportlich zu kleiden, da es für sie ebenso eine große Auswahl modischer Bekleidung gibt.
J. Loose im November 2016
- Einkaufen im Wandel der Zeit - 30. Oktober 2022
- Jede Menge Geschichten im Gepäck - 30. August 2022
- Nachlese zur Lesung am 09.11.2017 - 10. Juli 2022