Fähnlein 29, Bann 111 – Hitlers Kinder

Mehrfach waren im Sinne vormilitärischer Ausbildung auch Geländespiele angesagt, die auf den Bergen und in den Wäldern in und um Baden-Baden stattfanden. Für den Zug drei waren dann  die Pimpfe vom Zug zwei die Feinde. Hatte man sich über Stunden hinweg mittels Spähtrupps belauert und verfolgt, kam es letztendlich zum Zusammenprall von Freund und Feind, verbunden mit erlaubten und im Sinne körperlicher Ertüchtigung  sogar  erwünschten Schlägereien.  So habe ich mich seinerzeit auf das heftigste auf einer der Brücken, die die zum Merkur hinaufführende Bergbahn überqueren, mit einem älteren Jungen vom zweiten Zug geprügelt, der im Sport mein ärgster Konkurrent und mir nicht wohl gesonnen war.

Ich weiß, dass seinerzeit die Jungen eines Baden-Badener Fähnleins die nicht gelittenen Jungen eines aus Dortmund evakuierten Fähnleins fürchterlich zusammenschlugen. Offensichtlich war das Baden-Badener Fähnlein zahlenmäßig überlegen. Den Dortmundern wurden die Koppel abgenommen, so dass sie ihre Hosen mit der Hand halten mußten und sich vondannen schleichen durften. Zwei Dortmunder Jungen wurden mit Messerstichen und ein Dortmunder Junge mit einem gebrochenen Arm ins Krankenhaus eingeliefert.

Ich erinnere mich  auch an den Vorfall, der mich vor Scham fast in den Boden hätte versinken lassen. Auf einem Zettel, den ich auf dem Küchentisch in unserer Wohnung auf der Lichtentalerstraße für Mami hinterlegt hatte, teilte ich ihr mit, dass kurzfristig ein Nacht-Geländespiel angesagt worden war und ich um 19 Uhr auf dem Platz an der Radiumquelle anzutreten hatte. Mami war nämlich bereits am frühen Morgen aus dem Haus gegangen. Sie mußte  Schützengräben am Rhein zur Verteidigung des deutschen Vaterlandes ausheben. Das Fähnlein stand ausgerichtet und der Fähnleinführer Pommerenke sprach markige Worte, als plötzlich Mami auf der Bildfläche erschien. Ich habe das Bild noch heute vor Augen, wie Mami über den Platz und auf den Fähnleinführer zustürzte. „Ich bin nicht damit einverstanden, dass mein Sohn an der Übung teilnimmt“, sagte sie ihm laut und  mit aller Bestimmtheit. „Ich komme vom Einsatz an der Heimatfront nach Hause und finde die Mitteilung meines Sohnes. So geht es nicht!“  Und sie ließ den verblüfften Fähnleinführer  Pommerenke stehen, ging auf das Fähnlein zu, nahm mich an die Hand und zog mich fort. Ich habe auf dem Weg nach Hause geheult wie ein Schloßhund und mich irrsinnig geschämt. Gott sei Dank war es schon dunkel, so dass ich nicht weiter auffiel. – Fast unverständlich ist mir bis heute geblieben, dass dieser Vorfall ohne jegliche Folgen blieb. Die Bestimmtheit, mit der Mami auftrat und den Fähnleinführer überrumpelte, war hier  wohl entscheidend. Der Fähnleinführer hätte sich blamiert, wenn er im nachhinein  seine Niederlage an die große Glocke gehängt hätte.

Irgend etwas stand immer auf dem Programm. So gehörte ich auch einem Bastelkreis an, der sich mit dem Bau von Schiffen aus Holz beschäftigte. Oft ging es aber auch zum Sportplatz. Springen, Laufen und Ballweitwurf wurden mit Inbrunst betrieben. Der Zugführer zeigte seinen „Männern“, dass er in der Lage war, weiter als 4 Meter zu springen. Das Thema Sport war  eine sehr wichtige Angelegenheit. Und es ist bekannt, dass gerade in Diktaturen der Sport immer eine große Rolle gespielt hat. Die besonderen Vorstellungen von Hitler waren nur allzu gut bekannt: „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde“, so sollte die zukünftige Herrenrasse schon   sein.

In der „Ausbildungsvorschrift für die Ertüchtigung der deutschen Jugend“, die der nationalsozialistische Reichsjugendführer Baldur von Schirach 1935 verfasste, heißt es:

„Hitlerjunge! Körperliche Ertüchtigung ist nicht nur die Voraussetzung für Deine spätere Wehrfähigkeit, sie ist auch eine Grundforderung der nationalsozialistischen Weltanschauung.

Wir in der Hitlerjugend sehen in planmäßig aufgebauten Leibesübungen ein unentbehrliches Werkzeug unserer Selbsterziehung zur Kameradschaft und Gemeinschaft. Der Führer verlangt von Dir, daß Du Deine körperlichen Anlagen und Fähigkeiten bis zur äußersten Möglichkeit entwickelst; denn er will eine Jugend, in der jeder einzelne die ihm von Gott gegebene Dreiheit: Körper, Geist und Seele harmonisch vereint. Nach solchem Willen ist der beste Deutsche nicht der Klügste oder der Kräftigste, wohl aber der, dessen Ausbildung ihn befähigt, in allen Lebenslagen der Gemeinschaft seines Volkes zu dienen.

Erziehe Dich zur Selbstlosigkeit! Wer gelernt hat, zuletzt an sich selbst zu denken, ist der beste Bürger des neuen Reiches. Ob arm, ob  reich, katholisch oder protestantisch, ihm sollen die Tore des Staates offenstehen.“

Die sportlichen Aktivitäten gefielen mir gut. Sie stachelten meinen Ehrgeiz an und  ließen mich erfahren, dass ich in meinem Jahrgang keinen anderen Pimpfen als Konkurrenten zu fürchten hatte. Und das hob mein Selbstwertgefühl. – Ein großer Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Im Rahmen der jährlich stattfindenden leichtathletischen Dreikämpfe für das Deutsche Jungvolk belegte ich im Dreikampf in meinem Zug den ersten und im Fähnlein, zu dem auch bis zu zwei Jahre ältere Pimpfe gehörten, den zweiten Platz in der Gesamtwertung. Ich lief die 60 Meter in 8,4 Sekunden, sprang über 4 Meter und warf den Schlagball über 60 Meter weit.

Vor dem angetretenen Fähnlein wurde ich vom Fähnleinführer vorgerufen und meine Leistungen wurden gewürdigt. Sodann überreichte er mir  das  Karl May Buch „Der Schut“. Ich war sehr stolz. Irgendwann nach dem Krieg verlieh ich das Buch, das eine Widmung, die Unterschrift des Fähnleinführers und den Stempelaufdruck der Geschäftsstelle des Fähnleins trug. Ich bekam es nie zurück. Unglücklicherweise wußte ich auch nicht mehr, an wen denn ich das Buch verliehen hatte.

Mein sportlicher Erfolg im Fähnlein war damit verbunden, dass ich an den sogenannten Bannerwettkämpfen in Rastatt teilnehmen durfte, zu denen die besten Pimpfe aufgerufen waren. Aber gleich im Anschluß hieran kam für mich die größte und freudigste Überraschung. Ich wurde zum Hordenführer ernannt und bekam, zur Betonung meines Ranges, einen Lederriemen, den ich quer von der Schulter zum Hosenbund  hin trug. Ausgestattet mit einem Notizbuch, das ich in meiner Uniformjacke trug, hatte ich die Verpflichtung, mich um meine Kameraden zu kümmern. Ich führte Buch darüber, wann und warum mein Kamerad zum „Antreten“ nicht erschienen war. Hiermit verbunden war auch immer ein Aufsuchen der Eltern des Pimpfen.

So sehr ich seinerzeit von meiner Mission überzeugt war, so muss ich aus heutiger Sicht doch entsetzt feststellen, wie umfassend schon die Beeinflussung eines kleinen zehnjährigen Jungen tatsächlich betrieben wurde. Ohne  dass ich mir große Gedanken gemacht hätte, wurde mir das Gefühlt vermittelt, die Verantwortung für meine Kameraden und für Führer, Volk und Vaterland zu haben. Im Übrigen wurde mir, unterstrichen durch meine Beförderung zum Hordenführer, signalisiert, dass ich Führungsqualitäten besaß und zu Höherem berufen war. Hierbei bin ich davon überzeugt, dass diejenigen, deren Aufgabe es war, mich zu prägen, gleichermaßen beeinflusst wurden.

In Herbst 1944, die Alliierten machten bereits gewaltige Fortschritte in Frankreich,  wurde ich als Pimpf noch dazu ausersehen, in der sogenannten „Napola“, der Nationalsozialistischen Politischen Lehranstalt, ausgebildet zu werden. Für würdig befunden wurde ich wohl auf Grund meiner sportlichen Leistungen, die mich als hoffnungsvollen  Nachwuchs  kennzeichneten. Ich erinnere mich, dass uns Fähnleinführer Pommerenke zu Hause aufsuchte und mit Mami sprach. Und was kaum glaubhaft erscheint:  Er riet Mami, ihre notwendige Zustimmung für meine  Ausbildung auf der Napola zu verweigern. Mami hatte das auch vor, wie sie mir sagte. Fähnleinführer Pommerenke muß hierbei, wie man zu sagen pflegt, der Teufel geritten haben. Hätte Mami dritten Stellen gegenüber  auch nur Andeutungen über die von ihm vorgeschlagene Ablehnung zu meiner Ausbildung auf der Napola gemacht, so wäre es um ihn geschehen gewesen. Aber auch so erlitt er, den Mami gut leiden mochte,  als Achtzehnjähriger noch den Heldentod. Sozusagen mit Toresschluß wurde er eingezogen und starb „Für Führer Volk und Vaterland“.

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