Freuden 1945

Familienzusammenführung

Abgesprengt von meiner Panzergrenadiereinheit, schaffte ich Anfang 1945 (kurz nach meinem 17. Geburtstag) die Flucht vor den Russen von der Oder bis hin zur Elbe. Ziel waren die amerikanischen Linien. Pünktlich zum Kriegsende am 8. Mai 1945 begab ich mich mit vielen Kameraden geschlossen in amerikanische Gefangenschaft. Soweit erforderlich  wurden wir entwaffnet, von oben bis unten gefilzt und anschließend auf den Landeplatz des Flughafens Hagenow südlich von Schwerin geschleust. Hier kampierten zum Schluss über 100.000 Landser, ohne Wasser, ohne hygienische Einrichtungen, ohne Verpflegung.

Darüber hinaus bewegte fortan jeden die bange Frage: „Wird uns der Ami eventuell doch noch dem Iwan ausliefern?“ – Nach entbehrungsreichen ca. 14 Tagen, erlebten wir dann die erlösende Antwort und FREUDE Nr. 1:  Wir werden den Engländern übergeben und nach Schleswig-Holstein transportiert.

Hier erwartete uns eine schöne Landschaft, aber kein Paradies. Im Gegenteil: In einem riesigen Waldgelände bei Malente wurden wir uns selbst überlassen, schliefen wie immer unter freiem Himmel in eigens geschaufelten Erdlöchern oder in aus Planen provisorisch zusammengestückelten zeltartigen Gebilden. Bei trockenem Wetter war alles noch auszuhalten, aber wenn es regnete, wurde es ungemütlich. Wir liefen dann nur noch mit nassen Klamotten und leerem Magen umher. Die Verpflegung bestand aus drei bis fünf Keksen, wovon zwei Stück zum Herstellen und Sämigmachen einer bitteren Brennesselsuppe abgezweigt werden mussten. Vom ständigen Kohldampfschieben wurden die meisten so schwach, dass eine Fortbewegung nur mit Stock möglich war. – Nachdem sich die Organisation bei den Engländern gebessert hatte, wurde die tägliche Keksration um 2 bis 3 Schnitten Brot erhöht, was trotzdem zum Leben zu wenig und Sterben zu viel war.

Ende Juni/Anfang Juli 1945 lasen wir am Schwarzen Brett die Bekanntmachung, dass die englische Besatzungsmacht für das Ruhrgebiet Bergleute sucht. Wer in diesem Beruf erfahren sei, solle sich bei der Kommandantur melden. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und reihte mich in die Schlange der Wartenden ein. FREUDE Nr. 2 wurde mir zuteil, dass ich nach Rheinberg in ein Entlassungslager abkommandiert und von dort aus nach Mülheim weitergeleitet werden soll, was mit anderen Worten hieß: Ich bin in Kürze wieder ein freier Mensch!

Mit den entsprechenden Papieren ausgestattet ging es Richtung Heimat, die dann ein schreckenerregendes Bild abgab, und nur mit dem Bewusstsein ertragen werden konnte, dass Frieden ist und keine Bomben mehr fallen werden. In unserer noch einigermaßen heil gebliebenen Wohnung lebten bombengeschädigte Nachbarn. Man räumte mir eine Schlafstelle ein und kümmerte sich, soweit es ging, um mich.

Ich machte mir jetzt um die Eltern große Sorgen. Von Mutter, die sich evakuiert in Thüringen und  nunmehr im Machtbereich der russische Besatzung befand, und Vater,  der als Soldat irgendwo in der Welt herumschwirrte, fehlten seit langem jegliche Lebenszeichen.  Und dann geschah das, was man fast als ein Wunder bezeichnen kann: Völlig überraschend, allerdings ausgemergelt und zerlumpt, tauchte Vater aus einem Gefangenenlager auf. Die Freude war groß. Wir hatten uns immerhin schon fast zwei Jahre nicht mehr gesehen. Gemeinsam, so dachten wir, würden wir nun die auf uns zukommenden Schwierigkeiten irgendwie in den Griff bekommen.

Das war aber nicht ganz der Fall, denn in der Wohnung lebten außer uns beiden noch weitere sechs Personen. Um im Bergbau zu arbeiten, waren wir konditionell zu schwach, die auf Karten zugeteilten Lebensmittel reichten nur wenige Tage, statt für den ganzen Monat. So konnte es nicht weitergehen.

Durch Rückkehrer aus Thüringen erfuhren wir, dass Mutter lebte und immer noch im gleichen Hause wohnte, worin sich nach Abzug der Amerikaner russische Offiziere breit gemacht hatten. Wir fassten sofort den Entschluss, so schnell wie möglich nach Thüringen zu fahren, um die Mutter aus der gefährlichen Ostzone zurückzuholen. Das war ein schwieriges Unterfangen, denn es fuhren ja kaum Züge, und wenn, dann lediglich kurze Strecken. Lokomotiven sowie Waggons standen der  Bahn nur in beschränktem Maße zur Verfügung. Schließlich war das Schienennetz durch Kriegseinwirkungen über weite Entfernungen unbenutzbar geworden. Wir brauchten über 8 Tage, um die Zonengrenze per Anhalter, Schwarzfahren auf Puffern und Trittbrettern bei Göttingen zu erreichen. Die Russen hatten die Übergänge aber dicht gemacht, so dass ein Durchkommen unmöglich war.

Nach 14 Tagen, ungefähr Mitte August 1945, starteten wir die gleiche Prozedur noch einmal, hatten dieses Mal Glück, uns einer ortskundigen Grenzgängergruppe anschließen zu können. Ab Eschwege fuhr in der Ostzone tatsächlich ein Zug nach Gotha über Langensalza, unserem Ziel.

Wir befanden uns nun in einer ganz anderen Welt. Nichts war zerstört, nur die vielen schwerbewaffneten Russen passten nicht unbedingt in den so friedlichen  Rahmen. Man kann sich vorstellen, welche Szene sich abspielte, als meine Mutter, mein Vater und ich uns schluchzend in den Armen lagen.

Dieser Augenblick hatte die „FREUDE hoch 3“ verdient.

Horst Heckmann, Jg. 1928

Februar 2018
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