Volksschule
Für mich begann die Volksschule 1933. Es waren 42 Kinder in der Klasse. Ich hatte fünf jüdische Mitschülerinnen in der Klasse, meist waren sie die intelligenteren. An Diskriminierungen kann ich mich nicht erinnern. Das schönste Mädchen in meiner Klasse war Halbjüdin und hieß Ellen Rothschild; sie wurde nicht ‚abgeholt‘. – Noch heute weiß sie alle Namen: Dieta Elden, Gertrude Breslauer, Ilse Lesser.
Eva Timm, Schulzeit
Wir wussten, dass es KZs gab. Ich meine auch heute noch, dass alle von KZs gewusst hätten, jedenfalls in Berlin. Was genau darin vor sich ging, erfuhr auch ich allerdings erst nach dem Krieg.
Westend-Lyzeum
1936 kam ich auf das Westend-Lyzeum, eine sprachliche Oberschule nur für Mädchen in der Leistikowstraße. Irgendwann kamen die jüdischen Mädchen, die ich noch von der Volksschule kannte, nicht mehr zur Schule. Man fragte nicht, warum – auch ich nicht. Über ihr plötzliches Verschwinden legte sich automatisch eine Decke des Schweigens. – Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Westend-Schule zum Lazarett umfunktioniert.
Auch ich bin, wie es in Berlin üblich war, nach einem Jahr Konfirmanden-Unterricht eingesegnet worden.
In den Ferien arbeitete ich einmal bei der Firma Siemens und musste Lebensmittelmarken kleben. Es war keine anstrengende Arbeit. Man bekam etwas zu essen, das war in damaligen Zeiten ganz schön.
Private Erziehungsanstalt
Als die Luftangriffe immer häufiger und heftiger wurden, entsendeten die meisten Eltern ihre Kinder in die Kinderlandverschickung. Das wollten meine Eltern verhindern. So schickten sie mich auf eine private Erziehungsanstalt, von Dr. Thie, ein Gymnasium für Jungen und Mädchen. Dorthin musste wir eine Dreiviertel Stunde laufen (1943/44).
Eines Tages standen die Schülerinnen und Schüler jedoch vor einem Trümmerhaufen. Die Schulzeit war für mich damit beendet. Mir tut es heute noch leid, dass ich nur den Realschulabschluss habe.
Nach dem Krieg wollte ich im Nachhinein etwas über diese Schule erfahren; leider blieben Informationen über diese private Erziehungsanstalt aus. Der Verein für die Geschichte Berlin e.V. fand 2018 in einem Berliner Adressbuch von 1943, zweiter Band,Branchen/Behörden unter "Privatschulen" den Eintrag: Pädagogium Thie, Charlottenburg 2, Leibnizstraße 15.
Gesangs- und Tanzunterricht
Meine Mutter meldete mich für eine Gesangsausbildung an. Die Privatlehrerin am Kurfürstendamm hatte jedoch auch nach einigen Monaten wenig Erfolg bei mir.
Während des Krieges nahm ich auch Tanzstunde – immerhin war ich ja schon ein junges Fräulein, wie man damals sagte. Zwar gab es keinen Abschlussball mit allem, was dazu gehört, stattdessen hatten wir einen Fähnrichball. Die Fähnriche (Offiziersanwärter) hatten wohl Urlaub. Sie tanzten viel Swing, obwohl der ja verboten war.
Schulabschluss
Ich habe lange darunter gelitten, dass ich kein Abitur habe machen können, weil die Umstände während und nach dem Krieg halt so waren, wie sie halt waren. Immerhin habe ich Mittlere Reife – aber Abitur wäre schöner gewesen. Meine eigene Mutter legte auch nicht so viel Wert darauf, denn sie ging davon aus, dass ihre Tochter sowieso nicht studiert hätte.
Eins meiner vielen Interessen war immer schon, das aktuelle politische Geschehen in einem größeren historischen Zusammenhang zu sehen. Was mit Einzelschicksalen in ihrer jeweiligen Zeit passiert, habe ich schon in die Wiege gelegt bekommen, denn beide Eltern waren nach dem 2. Weltkrieg Flüchtlingskinder, mein Vater sogar noch Kindersoldat. Erst nach meiner Pensionierung konnte ich mich mit den Folgen dieser schrecklichen Zeit in der deutschen Geschichte beschäftigen und damit auch mit den Ursachen.
Bei meiner Arbeit ist mir ganz wichtig, immer auf das Alter der Erzählenden zu achten und immer danach (auch der Zuhörer sich selbst in seiner Biografie) zu fragen, inwieweit das politische Bewusstsein schon vorhanden war; und das ist bei jedem Menschen verschieden. Ich möchte ein Mosaikstückchen dazu beitragen, dass junge Menschen ihr persönliches politisches Bewusstsein bilden können; deshalb ist mir die Arbeit an Schulen eine Herzensangelegenheit.
Die Zeitzeugen fühlen sich manchmal unverstanden, wenn aus dem Heute Rückschlüsse nach Gestern geschlossen werden, frei nach dem Motto Warum habt ihr nichts gemerkt?, Wie konnte das passieren?, usw. Und genau hier ist der Punkt, an dem ein Austausch mit der jüngeren Generation stattfinden kann. Indem es den Zeitzeugen gelingt, dass sich die Schülerinnen und Schüler in die damalige Zeit versuchen hineinzuversetzen, können auch Bilder für das eigene Leben, für die eigene Zukunft entstehen.
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