Erinnerungen werden wach

Ich sitze am Tisch unter dem Terrassendach in meinem Garten. Träumend schaue ich in die Flamme der Adventskerze. Still ist es. Die laublosen Bäume haben ihr Rauschen eingestellt. Die Vögel sitzen verborgen und warten – auf was auch immer. Ich vermisse des Nachbarn Hund, der die Katze verbellt. Wolken jagen über den Himmel, als ob sie vom Bösen gejagt würden. Der Sommer ist verschwunden. Erinnerungen werden wach.

Gerda und ich hatten in diesem Garten viele schöne Stunden miteinander. Für mich viel zu früh, starb sie  im Alter von siebenundsiebzig Jahren. Oft bin ich jetzt alleine,  lese, schreibe und  träume mich hinaus in die Ferne.

Weihnachten steht vor der Tür, aber ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. 

Jeden vorweihnachtlichen Schmuck in meinem Wohnbereich lasse ich vermissen. Einen Weihnachtsbaum werde ich auch nicht aufstellen. Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, in denen das nahende Fest weihnachtliche Gefühle auch durch Lichterschmuck außen am Haus weckte. Doch heute genügt mir ein Blick in meinen großen Garten, den ich mit Laternen, Lampen und Solarlichtern beleuchte. Hügel, Winkel, versteckte Ecken, zwei 25 Meter hohe Fichten, große Kiefernbäume und zahlreiche Steinfiguren erwecken in mir romantische Gefühle.    

Erinnerungen werden wach. 

Ernst van Megern: Blick in den Garten
Foto privat: Ernst van Megern

Wie war es damals, als ich noch ein Kind war? Es gab viel Schnee, viel mehr als heute. Und ich wartete auf den Nikolaus. Und wie lange ist das aber schon her!         

Wir hatten üblicherweise zu Hause immer einen  sehr großen Weihnachtsbaum. Als ich aber, sieben Jahre alt, wie gewohnt  nach dem Klingeln das Weihnachtszimmer stürmte, rief ich entsetzt aus:   „Boah, ist der aber klein!“ Denn dieses Mal hatte der Weihnachtsbaum „nur“ das Stockmaß von ein Meter und fünfzig Zentimetern. Und der  für mich viel zu kleine Tannenbaum stellte meine mir zugedachten Geschenke zunächst in den Schatten.  

Heute kaufen die Leute oft einen aus Kunststoff hergestellten Baum, der auch noch viel kleiner ist als der, der mir ob seiner Größe seinerzeit nicht genügte. Der Kunststoffbaum nadelt nicht,  lässt sich jedes Jahr verwenden,  wird mit kleinen Lämpchen elektrisch beleuchtet, kann aber auch durch Spray den frischen Tannenduft nicht ersetzen.

Wo sind sie geblieben, die flackernden Kerzen, die mit den Eltern und Großeltern gesungenen Lieder  und die Weihnachtsgeschichten und Märchen, die man mir erzählte? Und das Gefühl der Geborgenheit in der Familie und das Zusammengehörigkeitsgefühl? Heute bestimmt Hektik die vorweihnachtliche Zeit und mit weihnachtlichen Angeboten wird man  schon Monate vor dem Fest  fast  erschlagen.    

Und was haben die Kinder von heute bloß für Wünsche? Einen Computer oder  einen Apparat, der nur plärrt, dröhnt und bumst, wollen sie haben. Bücher sind kaum noch gefragt, und wenn schon geschenkt, so doch oft nicht gelesen. Oft  wünschen sie  sich auch nur Geld, damit sie selbst entscheiden können, wie sie es anlegen. Hunderte von Euros investieren sie in das neueste Smartphone, geben aber nur fünf Euro für ein  T-Shirt aus, das von Näherinnen in Südostasien zu absolut unfairen Löhnen produziert wird. 

Was für eine Welt!  Und wo führt das noch hin?

Inzwischen bricht die Nacht in den Tag ein. Mein Auge erkennt einige  Sterne. Die Kühle macht sich bemerkbar, aber ich kann mich noch nicht entschließen, zurück in die Einsamkeit meiner Wohnung zu gehen.

Bis auf knapp zwei Monate bin ich doppelt so alt wie Mami, die heute vor fünfundsechzig Jahren, dreiundvierzig Jahre jung, starb; meine dreizehn Jahre jüngere Schwester war seinerzeit erst sieben Jahre alt. Wie lange tickt  m e i n e Lebensuhr noch? Mein statistisch gesehen durchschnittliches männliches Lebensalter habe ich längst überschritten. Soll ich deswegen Angst vor der Zukunft haben? Nein! Das Kölsche Grundgesetz, § 2, lautet: „Et kütt wie et kütt“. 

Blick in den Garten mit Laternen
Foto privat: Ernst van Megern

Auch morgen werde ich auf die  unvermeidlichen Rückfragen meiner Töchter warten, ob ich denn schon den Tisch für Heiligabend bestellt habe. Nach einem gemeinsamen Kaffeetrinken und der häuslichen Bescherung am Spätnachmittag des Heiligen Abends, bei der meine Partnerin mit von der Partie sein wird, werden wir –  wieder einmal – zum Abendessen ein Restaurant aufsuchen. Und bei der Verabschiedung werden wir uns dann noch einmal ein frohes Fest wünschen und in unser jeweiliges Zuhause zurückkehren. Und das war es dann; jedenfalls soweit es die  Familienfeier betrifft!   

An beiden  Weihnachtstagen wird meine Partnerin mich besuchen. Und beide freuen wir uns schon auf das nachmittägliche Kaffeetrinken. Ob wir zuvor in den Gottesdienst gegangen sind, möglicherweise einen Besuch auf dem Friedhof gemacht oder uns anderweitig umgesehen haben, wird vom Wetter und von unserem persönlichen Befinden abhängig sein. Das Fernsehen  zu Hause  wird jedoch gewiss mit von der Partie sein.     

Na dann: „Fröhliche Weihnachten!“  Und mögen die Engel und Heerscharen auch noch so jauchzen und tirilieren: Sylvester und das Neue Jahr winken schon, und Termine im nächsten  Jahr stehen auch schon an. Und die Zeit vergeht für mich wie im Fluge. Was überhaupt bedeutet Zeit frage, ich mich daher: eine Selbstverständlichkeit oder eine Illusion?  Ist die Zeit auch abhängig von der physiologischen und psychischen Situation, in der man jeweils steckt? 

Ernst van Megern

November 2018
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