Herr Ruthmann: Auf der gestrigen Lesung in der Buchhandlung Fehst fand ich den Zuspruch der Zuhörer nach meinem Dafürhalten recht rege. Ich schätze, wir hatten gut 20, 25 Leute, die recht aufmerksam zugehört haben. Ich war etwas überrascht, im Vorfeld als Ankündigung in der Zeitung „War is over!“ zu lesen. Das ist ein Terminus, den wir erst spät nach dem Krieg kennengelernt haben. Mein zweiter Kritikpunkt ist, dass ich lt. Zeitungsbericht den Bombenhagel nicht erlebt habe, denn ich sei ja mit meiner Familie vor dem Bombenhagel geflohen. Fakt ist: Von den 299 Luftangriffen auf Duisburg habe ich mindestens 260 erlebt, und zwar in unterschiedlicher Intensität. Das war dann der Auslöser für unsere Evakuierung in die Niederlausitz, von wo wir nach kürzester Zeit wieder die Flucht ergreifen mussten, da die Ostfront näher rückte und wir dann mit der Vorsicht und Weitsicht meiner Mutter ausgewichen sind nach Schleswig-Holstein, weil zu vermuten war, dass dort die russische Front nicht hinkommen würde. So war es dann auch.
Die Aufmerksamkeit im Publikum war sehr spürbar.
Frau Storks: Auch ich war angenehm überrascht, dass so viele da waren. Das Interesse war groß, und die Atmosphäre stimmte auch.
Frau Reuß: Also, dieses „War is over“ hatten Sie irgendwann mal während einer Sitzung erwähnt, und deswegen ist es auf die Vorankündigung gekommen.
Herr Ruthmann: Ja, das kann sein. Das ist mir nicht so gegenwärtig.
Frau Reuß: Und dass Sie den Bombenhagel gar nicht erlebt haben sollen – nach diesem Zeitungsbericht – ist ja schon eine Verfälschung.
Herr Ruthmann: Ich habe zu den Zeitungsleuten seit meiner Sportzeit ein gespaltenes Verhältnis.
Frau P.: Ein größeres Problem ist noch etwas anderes: Man hat kein Anrecht darauf, bevor sie den Artikel einsetzen, diesen nochmal zu lesen; denn dann hätte man ja die Gelegenheit, das richtig zu stellen. Das machen die schon seit Jahren nicht mehr.
Herr Ruthmann: Stimmt. Da kommen Kinken drin vor, da sträuben sich selbst bei mir noch gewisse Haare.
Frau Reuß: Insgesamt fand ich die Lesung gestern absolut gelungen. Sie waren beide richtig klasse. Sie kennen ja das Problem mit den Fragen, manche sind einfach erschüttert, wenn sie zuhören. Gerade, wenn man sich die ganzen Zahlen vorstellt, was Sie, Herr Ruthmann von Duisburg erzählt haben. Und Sie, Frau Storks, haben ja auch diese Emotionalität als kleines Kind im Bunker hervorragend vorgetragen. – Da ist man als Zuhörer erst mal platt. Sie dürfen nicht vergessen, dass sich bei den Zuschauern oder Zuhörern im Innern auch etwas abspielt. Auch wenn Sie in Schulen gehen – gerade in die Klassen 7 bis 9/10 – die sind erst mal überwältigt.
Herr Ruthmann: Also, Leute, die das nicht erlebt haben, machen sich ja gar keine Vorstellungen, was die Menschen alles durchgemacht haben. Wir hatten ja hier mal eine Studentin, die sich sehr für unsere Geschichten interessiert hat. Aber gewundert habe ich mich über ihre Frage, wie und ob ich während eines Bombenangriffs über meine Zukunft nachgedacht habe. Das ist natürlich eine Frage, da fällt einem fast nichts zu ein. Da musste ich doch sehr drastisch sagen: Wenn Sie als kleines Kind oder auch Erwachsener sitzen, der Bombenhagel geht nieder, dann haben Sie alles andere als Gedanken an die Zukunft! Da geht Ihnen die Düse 1:150.000! Da denken Sie nicht an Ihre Zukunft, da denken Sie nur daran: Hoffentlich kommen wir hier wieder raus! Da geht es nur ums Überleben, das überstehen.
Frau Anders: Das ist die Zukunft.
Eins meiner vielen Interessen war immer schon, das aktuelle politische Geschehen in einem größeren historischen Zusammenhang zu sehen. Was mit Einzelschicksalen in ihrer jeweiligen Zeit passiert, habe ich schon in die Wiege gelegt bekommen, denn beide Eltern waren nach dem 2. Weltkrieg Flüchtlingskinder, mein Vater sogar noch Kindersoldat. Erst nach meiner Pensionierung konnte ich mich mit den Folgen dieser schrecklichen Zeit in der deutschen Geschichte beschäftigen und damit auch mit den Ursachen.
Bei meiner Arbeit ist mir ganz wichtig, immer auf das Alter der Erzählenden zu achten und immer danach (auch der Zuhörer sich selbst in seiner Biografie) zu fragen, inwieweit das politische Bewusstsein schon vorhanden war; und das ist bei jedem Menschen verschieden. Ich möchte ein Mosaikstückchen dazu beitragen, dass junge Menschen ihr persönliches politisches Bewusstsein bilden können; deshalb ist mir die Arbeit an Schulen eine Herzensangelegenheit.
Die Zeitzeugen fühlen sich manchmal unverstanden, wenn aus dem Heute Rückschlüsse nach Gestern geschlossen werden, frei nach dem Motto Warum habt ihr nichts gemerkt?, Wie konnte das passieren?, usw. Und genau hier ist der Punkt, an dem ein Austausch mit der jüngeren Generation stattfinden kann. Indem es den Zeitzeugen gelingt, dass sich die Schülerinnen und Schüler in die damalige Zeit versuchen hineinzuversetzen, können auch Bilder für das eigene Leben, für die eigene Zukunft entstehen.
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