Ende des Krieges

Die russische Offensive

Am 8. März kamen die ersten russischen Soldaten mit Wagen und Pferden zu uns. Sie stürmten lärmend ins Haus, schossen in die Decke, durchsuchten alles und nahmen Sachen mit, die sie hinterher wegwarfen. Auch die Soldaten waren immer auf der Jagd nach Essen. Aber wir hatten keine großen Reichtümer. Wir waren eigentlich arme Leute.

Sie fanden jedenfalls keinen Goldschmuck bei uns. Ich höre sie noch schreien: Uhri, Uhri! Ich weiß noch nicht mal, ob meine Mutter überhaupt eine Armbanduhr hatte, wir waren ja keine begüterten Leute. Also, jetzt stand man da und zuckte die Achseln. Der Soldat wollte wohl ein bisschen Druck machen und schoss in die Decke. Wir waren natürlich alle sehr erschrocken. Sie stürmten weiter und nahmen mit, was ihnen so in die Hände fiel. So ging es tagelang und nachts kamen sie, um Frauen zu vergewaltigen. 

Wir waren alle immer in großer Angst. Da waren wir eigentlich ganz froh, dass wir nicht nur eine Familie waren, sondern das ganze Haus voller Leute hatten. Wir waren mit den stecken gebliebenen Flüchtlingen und den Arbeitern insgesamt ca. 30 Personen. Man fühlte sich in der Gemeinschaft etwas geborgener und beschützter.

Die Russen kamen mit LKWs voller Soldaten und machten Jagd auf die Frauen. In ihrer großen Angst vor Übergriffen und Vergewaltigungen sind sie weggelaufen und haben sich ausserhalb des Hauses versteckt. Im Haus blieb keiner. Manchmal war es so, dass eine alte Frau zum Schutz für uns Kinder mit uns alleine im Haus blieb. Zu diesem Zeitpunkt waren  wir etwa 30 Kinder. Und es wurden immer mehr, etliche aus Ostpreußen waren hinzugekommen.

Im Mai war der Krieg zu Ende und es wurde bei uns am Haus die polnische Flagge gehisst. Nun hatten die Polen das Kommando. Soldaten in Uniformen kamen ins Haus und erklärten, in jedem Haus und auf jeder Bauernstelle dürfte nur eine Familie bleiben. Alle Überzähligen wurden dann raus auf die Straße zum Bahnhof getrieben, zur Bahnstrecke Danzig/Berlin, und wer nicht gehen konnte, der konnte auf einen Wagen steigen und wurde dann zum Bahnhof gebracht.

Schwebezustand

Wir wussten nun nicht genau, wie sich alles zugetragen hatte, denn wir hatten ja kein Radio, es wurde also immer vom einen zum anderen weitererzählt. Die Polen erzählten, dass der Krieg zu Ende sei und Pommern jetzt zu Polen gehörte. Männer in Uniform kamen ins Haus und sagten, dass alle Deutschen das Land verlassen müssen.

Es kamen auch Männer vom Westen und zogen durch die besetzten Gebiete  und brachten Nachrichten mit, was sich im Westen ereignet und wie sich die Lage dort entwickelt hatte, z. B. die Einteilung in drei Zonen. Wir kochten immer im großen Topf, wir teilten uns immer alles, was gerade da war.

Im Sommer 1945 kam eine große Typhusepidemie, an der viele Menschen starben. Die Kranken wurden mit Pferdewagen in die Kleinstadt gebracht, und auf dem gleichen Wagen wurden dann auch schon die Toten zum Friedhof gefahren, denn die wollten ja auch noch alle da in der Heimat beerdigt werden. Kinder verwaisten, weil ihre Mütter gestorben waren. Dann gab es wieder Frauen, die diese Kinder mitnahmen und für sie sorgten. Einen Arzt gab es auch nicht in der Zeit. Während der Typhus-Epidemie fuhren wir mit Pferd und Wagen in die nächste Stadt, um dort gegen Typhus geimpft zu werden. Ich war hinterher sehr krank. In dieser Zeit verstarb die Freundin meiner Mutter, sodass wir ihren Sohn  Klaus bei uns aufnahmen und in den Westen mitnahmen. Später hat ihn sein Vater nach Solingen geholt.

Im Sommer 1945 sind die Flüchtlinge aus Ostpreußen ausgewiesen worden; sie sollten wieder in ihre Heimat gehen. Ihr bisschen Habe wurde verteilt. Wir wussten nicht, wo sie hingebracht wurden. 

Im folgenden Frühjahr wurde es etwas knapper mit dem Essen; da kochten wir auch schon mal unreifes Obst und aßen die alten abgekeimten Kartoffeln; aber wir hatten immer etwas zu essen. 

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