„Vom Himmel hoch …“

Ein Heiligabend der besonderen Art

1944 wurde ich mit 16 Jahren zum Reichsarbeitsdienst nach Neddemin in Mecklenburg eingezogen. 

Der Reichsarbeitsdienst (RAD) war eine 1935 gegründete Organisation, die in Friedenszeiten arbeitslose Männer zwischen 18 und 24 Jahren auf freiwilliger Basis mit Entwässerungsarbeiten und Autobahnbau beschäftigte, während des Krieges jedoch Jugendliche im Alter von 16 -17 Jahren zur vormilitärischen Ausbildung dienstverpflichtete. War es in den Anfangsjahren noch der Spaten, der die Arbeit symbolisierte, wurde es später das Gewehr, was die Wertbereitschaft verdeutlichte. 

Unser Barackenlager befand sich mehrere Kilometer entfernt von dem aus nur wenigen Häusern bestehenden Neddemin, also fast am Ende der Welt. Es herrschte eine eisige Kälte. Der Schnee lag überall 30 – 40 cm hoch. Die U-förmig angelegten Unterkünfte umsäumten den Appellplatz, wo der Schnee geräumt oder festgetreten war. Jede Baracke beherbergte circa 120 Arbeitsmänner und die Stuben zehn Leute, einem „Trupp“.

Unser Trupp gehörte dem Zug (40 Leute) des Oberfeldmeisters Patzke an, bei dem es sich um einen hoch dekorierten Frontsoldaten handelte, der einen Arm verloren hatte und Träger des goldenen Verwundetenabzeichens, des Eisernen Kreuzes 1. Klasse (Tapferkeitsorden) sowie des Infanteriesturmabzeichens war. Da er seine Frontverwendungsfähigkeit eingebüßt hatte, wurde er zum RAD als Ausbilder abkommandiert. 

Die ihm damit eingeräumte Narrenfreiheit nutzte er weidlich aus, um uns “jungen Hüpfern“, die gerade die Schulbank verlassen hatten, zu zeigen, „was eine Harke ist“. Solche Führungstypen nannte man “Schleifer“. Von ihnen gab es in der Truppe mehr als genug. Sie waren verhasst wie der Teufel. 

An den besonderen Heiligabend 1944 kann ich mich noch genau besinnen. Wir waren auf der Stube versammelt. Es war ein Hauch von Weihnachtsstimmung aufgekommen. Einige Kameraden öffnete ihre von zu Hause bekommen im Päckchen. Wir trauten unseren Ohren nicht, als Patzer draußen das Kommando erscheinen ließ:

„Zug eins in Ausgekleidung raustreten, aber bitte mit Beeilung!“ 

Das hieß: alles stehen und liegen lassen und raus aus den noch klammern Arbeitsklamotten, hinein in die bisher noch wenig berührte Ausgehgarnitur. Wir waren schnell dahinter gekommen, dass uns keine Uniform-Musterung für einen eventuellen Weihnachtsausgang kommen, sondern eine reine Schikane-Aktion bevorstand. 

Wir mussten eine Runde um den Appellplatz marschieren und dabei singen: „Es zittern die morschen Knochen …“ (Nazi-Soldaten-Lied). Davon wurden unsere Kameraden in den anderen Blöcken aufmerksam, die das ganze Spiel mit teilweise verständnislosen aber auch schadenfrohen Blicken hinter den Fensterscheiben verfolgten. 

Aber es sollte noch interessanter werden: Weil es beim Trupp 1, dem ich angehörte, während des Appells mehrere Nachzügler gegeben hatte, wurden wir zu einer „Sondervorstellung“ verdonnert. Nachdem die anderen Kameraden wegtreten durften, hieß es für uns:

„In 3 Minuten mit Stahlhelm, gefüllter Waschschüssel und im Nachthemd antreten!“

Wir waren schon allerhand gewöhnt, aber ein solches Kommando hatte es noch nie gegeben. Was blieb uns anderes übrig, als sich unserem Schicksal zu fügen, und das im Affentempo, teilweise mit Galgenhumor, unterdrücktem Gelächter, aber auch tiefer Empörung. 

Dann hieß es:

„Waschschüssel in Vorhalte und Dauerlauf marsch marsch!“

Dabei musste das Lied “Vom Himmel hoch, da komm ich her …“ gesungen werden. Weil es unserem Peiniger gar nicht gefiel, dass einige Kameraden kicherten, befahl er:

„Flieger von links“

Das hieß: in Deckung gehen. Wer den Kopf nicht tief genug in den Schnee steckte, dem verhalf Patzek mit einem Fußtritt von oben auf den Stahlhelm in die befohlene Position. 

Diese Prozedur ging um den ganzen Appellplatz. Völlig durchnässt und erschöpft durften wir anschließend die Stube aufsuchen. Wir fühlten uns mehr als besch …, bis ins Tiefste gedemütigt.

Von da an war ich fest überzeugt davon, dass es sich bei den unter vorgehaltener Hand verbreiteten Vermutungen, die KZ-Häftlinge würden in den Lagern unmenschlich behandelt, ja sogar getötet, um keine Gerüchte, sondern um eine bittere Wahrheit handeln müsse. Denn wer mit seiner eigenen Jugend so verfährt, wie wir es gerade erlebt hatten, dem ist auch noch Schlimmeres bei sogenannten Staatsfeinden zuzumuten. 

Bis zum heutigen Tage erinnere ich mich jedes Jahr zu Heiligabend an jenen „Heiligen Abend der besonderen Art beim RAD“ in Neddemin in Mecklenburg.

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