Lesung: Berufsfindung

in den 1950er und 1960er Jahren

Das Ende der faschistischen Diktatur in Deutschland hat auch im Bereich der Berufsbildung eine materielle und geistige Verwüstung hinterlassen, die katastrophal war. In den vier Besatzungszonen wurde nach dem Krieg zunächst nicht abgestimmt verfahren. Trotzdem konnten bei der Wiederaufnahme der Bildungsaktivitäten an die gleichen Traditionen angeknüpft werden, vor allem was die Ausrichtung an geordnete Lehr- und Anlernberufe bzw. die kombinierte Ausbildung in Betrieben und Berufsschulen betrifft. 

Während in den westlichen Zonen nach Gründung der Bundesrepublik die gemeinsamen Wurzeln genutzt wurden, wenn auch mit anderer ideologischer Ausrichtung, entwickelte sich in der DDR eine bewusst antifaschistisch ausgerichtete demokratische Berufsbildung. Künftig plante und steuerte ein Staats- und Machtapparat die berufliche Bildung mit unterschiedlich zuständigen Ministerien. Im Westen beschränkte sich der Staat lediglich auf die Beschulung von Lehrlingen und baute auf die Restaurierungsfähigkeit der Wirtschaft.

Allgemein sind die Jugendjahre, also die Zeit zwischen dem dreizehnten und einundzwanzigsten Lebensjahr eine schwierige Zeit für Jugendliche. Wie viel schwerer muss es für die Jugendlichen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis weit in die fünfziger Jahre hinein gewesen sein, mit den Bedingungen des Auswachsens klarzukommen. Es herrschte eine allgemeine materielle Not in der gesamten Bevölkerung, es gab Mangelernährung, Wohnungsnot, Flüchtlingselend, Verlust der Väter im Krieg oder deren Abwesenheit nach dem Krieg, wichtige Bezugspersonen fehlten wohlmöglich.

Nach repräsentativen Erhebungen verfügten in der Bundesrepublik Anfang der Fünfziger Jahre nur 40 % und Mitte des Jahrzehnts etwa 50 % der Jugendlichen über einen eigenen Raum. Die anderen mussten sich das Schlafzimmer mit den Eltern bzw. einem Elternteil oder Geschwistern teilen. Rückzugsmöglichkeiten aus dem oft von materieller Armut und äußerster Sparsamkeit geprägten Elternhaus bot nur das Draußen, die Straße und die Plätze, die oft noch gezeichnet waren von den Folgen der Bombenangriffe. Hier traf man seine Freunde, hier konnte man sich ausleben. Zeit, freie Zeit war jedoch rar, denn auch von den Jugendlichen wurde die Beteiligung an der Beschaffung des Lebensunterhaltes für die Familie erwartet.

Auf der heutigen Lesung berichten zwei Zeitzeuginnen über ihren Berufsfindungsprozess im westlichen Teil Deutschlands, der unterschiedlicher nicht sein könnte. Beiden gemeinsam ist zunächst: Sie sind Frauen. Und: Beide haben bis zu ihrer Pensionierung / bis zu ihrem Renteneintritt gearbeitet (und darüber  hinaus). Das ist eine absolute Umkehr von dem, was der Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland gepredigt wurde, nämlich, dass die Frau im Haus bleibt und für die Kinder sorgt. 

Nun war die Situation der Schulabgänger in den 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts jeweils eine gänzlich andere. Nach der Währungsreform 1948 ging es wirtschaftlich gesehen langsam bergauf: Die Arbeitslosenquote sank zwischen 1950 und 1960 von 11 % auf nahezu Vollbeschäftigung, die Zahl der Erwerbstätigen stieg, dennoch war beispielsweise die Arbeitszeit verhältnismäßig hoch (49 Stunden). Zudem hatten die Jugendlichen zum Erwerbsleben beizutragen; die Ausbildung blieb da manchmal auf der Strecke. Teilzeitarbeit gab es noch nicht. Viele Flüchtlinge und Vertriebene mussten integriert werden. Es gab mehr Männer als Frauen. Die schnelle Entscheidung zur Ehe offenbarte vor allem die miserablen Wohnungsbedingungen. Die hohe Arbeitslosigkeit der Jugendlichen Anfang der 50er Jahre, es waren immerhin eine Viertel Millionen, führte zu dem Begriff „Jugendnot“. Aus dieser Zeit stammt der Vorschlag, die Schulzeit zu verlängern, um den Arbeitsmarkt zu entlasten. – Eine Ausbildungsstelle zu erlangen, zumal als Mädchen – war fast aussichtslos. Und wer eine bekam, war ein Glückspilz.

Anfang der 1960er Jahre bot sich den Jugendlichen dann ein völlig anderes Bild: Nun hatten sie die Qual der Wahl. Unternehmen umgarnten Schulabgänger mit Sonderleistungen. Der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik war leergefegt. Lehrstellen gab es wie Sand am Meer, und jede dritte blieb unbesetzt. Macht man sich klar, dass die Reallöhne in der Zeit von 1950 bis 1970 um 250% stiegen, so sind materielle Begehrlichkeiten gerade in dieser heranwachsenden Generationen überall zu finden. Alles schien möglich, auch ein höherer Bildungsabschluss. Gingen in den 1950er Jahren noch fast 90 % mit den Hauptschulabschluss ins Berufsleben, so sank die Quote bereits in den 1960er Jahren auf 80 % . Der Run auf die Hochschulen begann dann in den 1970er Jahren. – Man muss sich heute sehr vor Augen führen, dass mittlerweile in manchen Landesteilen von Deutschland bis zu 14% der Schulabgänger keinen Hauptschulabschluss haben!

Dass neben dem schwierigen Berufsfindungsprozess bzw. der freien Auswahl an Lehrberufen auch noch das soziale Klima in der Bundesrepublik wandelte, was den Arbeitsmarkt und auch die „Behandlung“ der „Lehrlinge“ betraf gehört in die Diskussion unmittelbar dazu, soll aber an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Sie werden bei den Berichten unserer Zeitzeuginnen allerhand zwischen den Zeilen dazu erfahren.

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