Fresswelle vorbeigerauscht

Ich muss bekennen, dass ich zum Thema Fresswelle aus eigener Anschauung nicht viel an Erfahrungswerten aufzubieten habe. Besagte Welle ist wohl ohne besondere Wirkung auf mich als Person vorbeigerauscht. Ich kann es nur damit erklären, dass ich ihn betreffenden Zeitraum, den Beginn der 1950er Jahre, da ich noch im Schoße der elterlichen Familie lebte, als 14 bis sagen wir 20-jähriger Mensch durch die familiäre Fürsorge recht gut und normal versorgt war. 

Unsere Familie befand sich nach Kriegsende und verhältnismäßig gutem Überstehen der Mangelwirtschaft bis zur Währungsreform 1948 dank der umsichtigen Wirtschaftsweise unserer Mutter und dem Organisationstalent unseres Vaters und seiner privaten und beruflichen Verbindungen als Fleischermeister in einer günstigen wirtschaftlichen Situation. Trotz dieser Vorzüge sind meine Eltern immer auf dem Teppich geblieben und haben sich trotz verlockende Angebote aus dem Bekanntenkreis zu riskanten Möglichkeiten schneller Bereicherung nicht zu abenteuerlichen Dingen hinreißen lassen. 

Als klassisches Demonstrationsmodell der Fresswelle zeigt man stets den feisten Mann mit Messer und Gabel in seinen Fäusten und einem mächtigen Braten vor sich. Das hat es in unserer Familie nicht gegeben. Wir wurden stets gut und in ausreichendem Maße ernährt. Meine älteren Schwestern fanden nur gelegentlich Grund, die aufgetischte Mahlzeit zu kritisieren. Dieses war jedoch lediglich durch die individuelle Geschmacksauffassung begründet. Ich selbst war stets ein guter Esser und man sagt mir nach, dass ich als zwei- dreijähriger Knabe bereits nach dem Mittagsschläfchen zum Eisschrank ging und mir ein Schälchen mit gekochtem Gemüse, einen Rest eines vorherigen Mittagsmahls holte und meine Mutter aufforderte: ‚Tu mal warm machen!‘, ein Wunsch, der jedes Mutterherz erfreute. Er bescheinigte der Mama, dass ihre Essenszubereitung gut gemundet hatte. 

Für die normalen Familienmahlzeiten waren wir also bestens versorgt. Aber da entstehen zusätzliche Gelüste nach Feinkost- und Fischprodukten. Zu meinen Aufgaben gehörten jeden Samstag Inkassoaufträge meines Vaters. Deshalb war ich jedes Wochenende mit dem Fahrrad im Großraum Duisburg und den Nachbarstädten unterwegs, um säumige Kunden meines Vaters aufzusuchen und offenstehende Lieferrechnungen zu kassieren. Bei der Gelegenheit erhielt ich von Mutter Aufträge, in der City beim Toplieferanten für Fisch – Gast Räucherlachs, Aal und Nordseekrabben einzukaufen und im Wild- und Geflügelgeschäft de Haan weitere Delikatessen. Vater wünschte sich vom Metzger Willi Fischer in Neudorf dessen Spezialprodukte Thüringer Blutwurst und Rauchfleisch und beim Kollegen Konrad Kreiner in Laar einen Ring Fleischwurst, denn dieser hatte in der Woche zuvor ein Bullenhinterteil bei Vater gekauft, um daraus seine schlesisches Fleischwurst herzustellen. So waren wir bestrebt, die Gaumenfreuden der Familie zu erfüllen, ohne damit besondere Fressorgien auszulösen. Das Resultat konnte man im äußeren Erscheinungsbild der Familienmitglieder ablesen, denn sie konnten sie als normalwüchsige Figuren bezeichnet werden.

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