Heute, im Zeitalter der Digitalisierung, ist es nur schwer vorstellbar, wie Verabredungen zu Besuchen ohne Telefon, Handy, WhatsApp oder E-Mail, möglich waren. Dennoch wurden Freundschaften und eine gute Nachbarschaft regelmäßig und intensiv gepflegt, und auch die Verwandten kamen dabei selbstverständlich nicht zu kurz. Es war üblich, dass die engsten Freunde und Verwandten zum Geburtstag ohne jede Form einer Einladung erschienen; dieses war ein Ritual, welches sich verselbstständigt hatte und bedurfte keiner besonderen Absprache.
Ein bis zwei Tage vor einem solchen Besuch begann meine Mutter emsig mit den Vorbereitungen. Kuchen wurden gebacken und alle Zutaten für die zu der Zeit üblichen „Schnittchen“ (das waren Brotscheiben, belegt mit Wurst und Käse und mit Gürkchen garniert) wurden besorgt. Diese sogenannten Schnittchen gab es zum Abendbrot.
Als Getränke wurde immer eine Bowle für die Damen angesetzt, die Obstsorten waren der Saison angepasst. Das Eierlikörchen durfte unter gar keinen Umständen fehlen, und für die Männer war immer ein Bier im Keller kalt gestellt. Es waren stets sehr lustige und fröhliche Zusammenkünfte, bei denen gesungen und getanzt wurde, und ein Onkel spielte auf dem Schifferklavier oder der Gitarre. Wir Kinder durften bei besonderen Anlässen etwas länger aufbleiben und haben lauthals mitgesungen. Natürlich hatten wir Jugendlichen auch unseren Spaß daran, als der Alkohol bei den Erwachsenen seine Wirkung zeigte. Jedenfalls ausfallend oder beleidigend wurde keiner, niemals. Bei der Verabschiedung wurde sich noch herzlichst umarmt, jeder drückte aus, wie schön der Tag und Abend war, und wie sehr man sich auf die nächste Zusammenkunft freue. Zu erwähnen sei noch, dass jeder Gast, aber auch die Gastgeber, sich immer mit ihrer Sonntagskleidung rausgeputzt hatten.
Uns Kindern brachten die Gäste immer Süßigkeiten mit, worauf wir uns schon Tage vorher erwartungsvoll freuten. Wenn bei solchen Feiern mehrere Kinder anwesend waren, wurde für uns ein Extratisch gedeckt und wir konnten rumalbern, ohne einen strafenden Blick zu erhaschen, wenn es zu laut wurde. Zu angemessener Zeit musste ich natürlich ins Bett und machte mich dann noch über die Mitbringsel her.
Als es allen wirtschaftlich besser ging, zeigte sich dies auch in der Form eines vielfältiger und abwechslungsreicher gedeckten Tisches. Anstelle der Schnittchen gab es belegte Brötchen, Mett, Kartoffelsalat mit Brühwürstchen, Käse-Igel und garnierte Eierhälften, und nicht zu vergessen, die selbst gemachten Frikadellen und der Krabben-Cocktail.
Wollten meine Eltern ohne einen bestimmten Grund Freunde einladen, wurde es schon komplizierter, denn die Einladung musste über den Postweg erfolgen, oder man ging bei demjenigen vorbei und sprach seine Einladung persönlich aus. Eine andere Möglichkeit hatten wir nicht, denn es gab in unserer Gegend zur damaligen Zeit noch keine Telefonanschlüsse, denn die entsprechenden Leitungen dazu waren noch nicht verlegt.
Eine große Leidenschaft meiner Großmutter, welche direkt neben uns wohnte, waren Spontanbesuche. Dabei hatte sie mich meistens an ihrer Seite. So konnte es sein, dass es zu einer Nachbarin in der Nähe, einer guten Bekannten oder Familienangehörigen ging. Überall waren wir herzlich willkommen, denn Gastlichkeit wurde sehr groß geschrieben. Auch wenn nichts Großes aufgetischt werden konnte, eine Tasse Kaffee und ein paar Kekse reichten schon. Hauptsache man hatte sich wieder einmal gesehen.
In der Regel wurde dann noch der Schuhkarton mit den alten Familienbildern hervorgeholt, und man hat sich köstlich amüsiert. So einfach war das.
Bei besonderen Anlässen wie Hochzeit, Taufe, Konfirmation und Kommunion wurde am ersten Tag ganz groß im Familienkreis gefeiert. Am zweiten war die Nachbarschaft geschlossen dran. Die Hausfrauen standen schon Tage vorher bis in die Nächte in der Küche, Salate, Braten und Torten wurden vorbereitet. Es duftete im ganzen Haus, Gerüche, die ich niemals vergessen habe. Nach den Feierlichkeiten erfolgte das Resteessen. Jedenfalls haben wir damals schon verstanden, so richtig abzufeiern und zu schmausen.
Das Größte für uns Kinder war natürlich der Kindergeburtstag. Ich durfte etliche Freundinnen einladen und meine Mutter hat eine Menge Leckereien und Spiele vorbereitet. Zunächst labten wir uns an den Köstlichkeiten, dann folgten die Spielstunden, bei denen es hoch herging. Für die Gewinner gab es kleine Preise, und zum Abschluss des Tages ging jedes Kind mit seiner Überraschungstüte stolz nach Hause. Die Kinder, die etwas weiter entfernt wohnten, wurden von ihren Vätern abgeholt. So kam es dann auch wieder zu einem kleinen Treffen der Erwachsenen.
Auf einen Besuch freute ich mich jede Woche besonders, es war der meiner Großmutter, die in Oberhausen wohnte. Sie kam jeden Donnerstag, blieb über Nacht und Freitagvormittag fuhr sie wieder nach Hause. Immer tranken wir zusammen Kaffee, und die Abendstunden verbrachten wir mit gemeinsamen Gesellschaftsspielen, an denen auch meine Eltern teilnahmen. Meine Mutter hatte sich für diesen Tag immer etwas Besonderes zum Mittagessen einfallen lassen. Somit gab es bei uns sogar an zwei Tagen in der Woche ein Sonntagsessen, was ich natürlich toll fand.
Zu den traurigen Angelegenheiten gehörten leider die Kondolenzbesuche, wenn ein Nachbar oder eine Nachbarin verstorben war. In der Nachbarschaft wurde für einen Kranz gesammelt, was immer zwei Frauen übernahmen. Es war damals üblich, dass der Verstorbene in seiner besten Garderobe feierlich in seiner Wohnung aufgebahrt wurde. Bei diesen Besuchen wurde zur Beerdigung mit anschließendem Leichenschmaus, auch Raue genannt, eingeladen. Obligatorisch gab es dann Streusel- und Butterkuchen, dazu erst Kaffee; danach floss reichlich der „Klare“. Man ließ den Verstorbenen nochmal so richtig hochleben, so langsam wurde es wieder gemütlich und lustig. Ich habe das allerdings nie verstanden. – Mit anderen Worten, das Wort Begegnung und Nachbarschaft wurde auch hier ganz groß geschrieben.
Diese Zusammenkünfte aus der Vergangenheit habe ich in allerbester Erinnerung. Auch bei uns, meinem Mann und mir, hat Gastfreundschaft eine besondere Priorität. Eines habe ich aus dieser zeit auch beibehalten. Zu besonderen Anlässen werden Einladungen auch heute noch schriftlich von uns ausgesprochen. So kommt mein alter Mount Blanc Schulfüller mit Goldfeder immer wieder zum Einsatz. Ich vermeide es, Einladungen an Freunde und Bekannte über das soziale Netzwerk auszusprechen. Dies mag zwar nicht dem heutigen Trend entsprechen, aber einen Teil der guten alten Bräuche möchte ich mir so persönlich erhalten.
Wir benannten vor vielen, vielen Jahren unsere Zusammenkünfte noch „Treffen“ oder „Besuch“, vielleicht manchmal „Party“ und hatten einen Riesen-Spaß. Heute spricht man von „Events“ und „Public Viewing“ oder „Alter komm vorbei“. Ob es dort allerdings so gemütlich und lustig zugeht, vermag ich zu bezweifeln. Es ist halt eine andere Form der Geselligkeit, für die ich inzwischen wohl zu alt bin.
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