Berufsweg

Oberschule oder Lehre?

In der 8. Klasse wurde die Entscheidung getroffen für den weiteren Lebensweg: entweder 4 Jahre Oberschule oder einen Beruf erlernen. Der Oberschulbesuch war von der schulischen Leistung abhängig und wurde vom Lehrerkollegium entschieden. In meinem Berufsleben habe ich viele gestrauchelte Abiturienten erlebt, wo die Eltern darauf drangen, dass ihre Kinder unbedingt Abitur machen sollten, die dann Schlosser gelernt  oder irgendeinen anderen Beruf ergriffen haben. Sie wären dem wahrscheinlich aus dem Weg gegangen, wenn die Entscheidung den Lehrer überlassen worden wäre.

Das wurde später unheimlich ausgenutzt, denn es gab immer jedes Jahr – oder nach zwei Jahren –  die Parteitage der SED, auf denen irgend etwas Neues ausgeklügelt wurde, z.B. dass wir mehr Arbeiterkinder brauchten, die studieren. – Es war also insgesamt ein Politikum, wer auf die Oberschule gehen durfte und wer eine Berufsausbildung beginnen musste. Das ist ja erst mal vernünftig. Man sollte allen die Chance geben und schwache Schüler fördern, damit diese auch zum Studium kommen. 

Lehre nach dem Schulabschluss

Nach Schulende traf ich dann öfter noch mit meinen Fußballfreunden zusammen. Eines Tages saßen wir mal wieder zusammen, da sagten die: „Mensch, nächste Woche werden in dem Pumpenwerk in Halle Lehrlinge aufgenommen, da gibt es 60 Mark Lehrlingsgeld. Da hat man ein bisschen Geld. Willst du nicht mitkommen?“ – Und so ging das hin und her. Irgendwie dachte ich: Na ja, gehst mal mit. 

Die Woche darauf gab es die Zeugnisse, und ich fuhr sofort zur Aufnahmeprüfung. Es waren so ungefähr 40, 50 Jugendliche, die da alle warteten, was da kommt. Wir wurden  in Gruppen aufgeteilt. Die ganze Ausbildungswerkstatt wurde uns gezeigt. Weise-Monski hieß die Firma im Volksmund, nach den Gründern. Der Betrieb war enteignet. Es war ein Betrieb mit ungefähr 1000 Mann Belegschaft, also ein größerer Betrieb. Der war auch nicht ausgeschlachtet worden in dem Maße, wie das in anderen Firmen war. Die gesamte Produktion war für wichtige Vorhaben der Sowjetunion, wie U-Boots- und Schiffbau sowie für wasserwirtschaftliche Projekte ausgerichtet. Damit hatte der Betrieb einen guten Start nach Kriegsende und war auch für die Zukunft gut aufgestellt.

Die Lehrwerkstatt hatte hinten einen Kopfbau, der mit mehreren Klassenzimmern als Berufsschule eingerichtet war, dahinter befand sich die Werkstatt. Diese war in drei Teile geteilt, in einer Reihe standen nur Drehmaschinen, in der Mitte waren Werkbänke und rechts waren die Werkzeugausgabe, der Maschinenpark mit Hobelmaschinen, die Fräsmaschinen usw. und hinten war noch eine Schmiede. 

Zuerst gab es so kleine mündliche Befragungen. Für eine schriftliche Prüfung  hatte man uns da auf die einzelnen Zimmer verteilt. 14 Tage darauf kriegten wir einen Brief, den ich schon abfing, bevor meine Eltern ihn lesen konnten, und da stand drin, dass für mich ab 1. September das Lehrjahr beginnen sollte. Ich nutzte eine günstige Gelegeheit, um meine Eltern auf die neue Situation vorzubereiten. Meine Eltern waren von meinen neuen Berufswunsch garnicht begeistert. Nach langer Diskussion und nach meiner Aussage später ein Ingenieurstudium zu absolvieren gaben sie sich zufrieden.

Wie sah das in der Lehre aus? Wir hatten also einen entsprechenden Ausbilder, so um die 50 Jahre, der Erfahrung in der Ausbildung von jungen Menschen hatte. Wir waren als Schlosserlehrlinge etwa 25 Jungs, und es waren noch 3 Mädels dabei; aber es stellte sich schnell heraus, dass sie nur 1 Jahr mitmachen und danach weiter als technische Zeichnerinnen ausgebildet würden. Unter den 25 Jungendlichen waren noch drei ältere dabei, die die Oberschule abgebrochen hatten. Wir arbeiteten an 6 Tagen insgesamt 48 Stunden – damals war das ja normal. Wer unter 18 war, der brauchte nur 45 Stunden arbeiten. Aber durch die Berufsschule ergab es sich sowieso, dass wir die ganze Woche im Einsatz waren. An zwei Tagen war immer Berufsschule, wo also bestimmte berufsbezogene Fächer, wie Fachrechnen, Werkstoffkunde und Maschinenkunde und solche speziellen Fächer, durchgenommen wurden. 

Politische Einflussnahme in der Lehre

Wir hatten auch das Fach Staatsbürgerkunde. Da bekamen wir eine neue Lehrerin, die uns mit den Vorzügen des Sozialismus vertraut machte, also Literatur von Marx, Engels, Lenin, Stalin. Es gab also dicke Wälzer, wo auszugsweise dann bestimmte Dinge behandelt wurden. Wir hatten einen FDJ-Sekretär, der uns häufig in die Mangel genommen hatte. Es ging z.B. darum, dass bei Demonstrationen – 1. Mai, 8. Mai, Tag der Befreiung, Tag der Republik usw. – die Jüngeren vorneweg ziehen mussten in Blauhemd mit Fahne und Transparenten – das war praktisch die Staffage für die Demonstration, wir waren da also immer fällig und mussten so mit marschieren. 

Verpflichtende Freizeitgestaltung

Die Dinge verschärften sich dann noch etwas, weil die neu gegründete ‚Gesellschaft für Sport und Technik‘ um uns warb, und zwar für Motorradfahren, Geländefahren für Motorrad, Funkausbildung, Tauchausbildung, Schießausbildung. Bei uns im Betrieb gab es dann also zwei Sektionen, das war Motorradfahren und Schießen. Für Motorradfahren hatten sich natürlich alle entschieden, aber es gab nur zwei Motorräder. Dann bin ich zum Schießen, das war mehr oder weniger Schießsport, wo mit Kleinkaliber-Pistolen und Gewehren geschossen wurde. 

Wir trafen uns zwei-, dreimal in der Woche, und es ging also darum, dass sie uns ein bisschen mehr in den Klauen hatten, dass wir nicht irgendwie anderweitig ausscherten. 

Aber es gab dann auch immer so Ideen, die sich herausbildeten, wenn es hieß: Demonstrationen – ihr müsst das publik machen. Dabei mussten wir mitmachen, mit dem Transparent vorneweg. So haben sich dann die älteren Kollegen immer an unserer Einsatzfreude schadlos gehalten und sich hinter uns versteckt.

Sozialistische Brigade und die Tarnung von Arbeitslosigkeit

Es gab dann noch mehr Einsätze, beispielsweise in der Sozialistischen Brigade. Es ist so gewesen: In der DDR gab es ja offiziell keine Arbeitslosigkeit, es gab ja auch kein Arbeitslosengeld, jeder hatte eine Arbeit. Es gab natürlich Leute, die wirklich arbeitslos waren, das konnte

z. B. ein Lehrer sein, der mal im Unterricht etwas Unrechtes gesagt hatte, der von der Schule verwiesen worden war, und der fand natürlich nirgendwo Arbeit in seinem Beruf. Der konnte dann sehen, wie er zurechtkam. Das waren also unsere Arbeitslosen. 

Dann gab es natürlich auch wie in jedem Land der Welt Leute, die es nicht so mit der Arbeit hatten, die dem Alkohol zugeneigt waren, und die hießen in der DDR Problembürger. Die Problembürger, die mussten also wieder in den Arbeitsprozess integriert werden. Dies ging so weit, dass wir teilweise als Jungfacharbeiter früh morgens um 6 Uhr losgingen mit einer Adresse, dort klingelten und den Betreffenden mit zur Arbeit brachten. Manchmal hatte er verschlafen, dann zog ich weiter und sagte ihm, komm mal nach. Eigentlich war alles eher eine Behinderung, aber so sollte ein bisschen die sozialistische Erziehung sein, also die Mitnahme aller Menschen. Na ja.

Dauer der Lehre und Studienwunsch mit Bedingungen

Die Ausbildung ging über 2 Jahre und dazu kam noch ein Jahr Jungfacharbeiter, das heißt, man kam in den Betrieb rein, dort wurde man in eine Arbeitsgruppe integriert mit Altgesellen, mit denen man dann zusammenarbeitete, die einem noch ein paar Kniffe zeigen konnte. Die Bezahlung war auch schon die unterste Tarifklasse für Facharbeiter. 

Während der Ausbildung und auch während der Zeit als Jungfacharbeiter kam bei mir plötzlich der Wunsch, doch noch zu studieren. Bei einer Gelegenheit, als nämlich ein neuer FDJ-Sekretär kam, hatten ein Freund von mir und ich dann mal im Büro angeklopft, ob es denn möglich wäre, uns zum Studium zu delegieren. Er stimmte zu, es sei kein Problem. Wir sollten 1 ½ Jahre zur Armee gehen und danach zum Studium. Da fiel uns natürlich erst mal die Kinnlade runter. Das wollten wir uns erst noch überlegen. Es war also so, dass die DDR angefangen hatte, eine Armee aufzubauen, hatte aber gleichzeitig nicht den Mut zu einer Wehrpflicht, sondern wollte das „auf freiwilliger Basis“ durchsetzen. Dazu setzte man nun alle möglichen Druckmittel ein, um junge Leute in die Armee zu kriegen, vor allen Dingen solche, die studieren wollten. 

Für uns war das Problem erst mal aus der Welt, denn zur Armee wollten wir beide nicht. Es verging auch eine ganze Weile, bis unser lieber FDJ-Sekretär wiederum auf uns zu kam und uns noch einmal auf unseren Studiumswunsch ansprach: „Ja, passt mal auf. Auf dem letzten Parteitag hatte man beschlossen, dass Industriearbeiter aufs Land gehen sollten. Wenn ihr das machen würdet, dann könnt ihr anschließend studieren.“

Landreform in der DDR

Seit August 1945 (bis 1949) lief ja eine große Landreform unter dem Motto ‚Junkerland in Bauernhand‘. Alles, was über 100 Hektar war, wurde entschädigungslos enteignet, teilweise wurden die Eigentümer ins Gefängnis gesteckt.

Ich möchte es einmal so beschreiben: Ein Landarbeiter, der von früh bis abends im Kuhstall war, wenn der jetzt plötzlich ein Hektar oder zwei Hektar Land kriegt, dann steht er auch da wie die Kuh vorm Tor. Das Resultat dieser Art Landreform war also, dass die Landwirtschaft schlecht wurde. Es gab also massive Missernten. Und die sogenannten Neubauern hatten zwar alle eine Kuh und zwei Schweine, wovon sie eins abgegeben mussten, das andere war für sie selbst – damit kann man aber natürlich keinen Staat ernähren. 

Diese Landreform zog sich so bis ca.1952, dann wurden die LPGs (Landwirtschaftliche Produktions Genossenschaft) gegründet. Das hieß dann: Alles wieder zurück, wir machen jetzt eine Genossenschaft, und jeder arbeitet fleißig mit. Einige machten aber nicht sofort mit, warteten ab und stellten sich lieber hinten an. So richtig lief diese Neuorganisation also gar nicht an. 

Probleme der LPGs mit Maschinen und deren Bedienung

Denn dort wo es einigermaßen lief, hatten die LPGs natürlich keine Maschinen. Also gründete man sogenannte  Maschinenausleihstationen (MAS),  wo man Traktoren, Pflüge, bis hin zum Mähdrescher ausleihen konnte. Dann stellte man plötzlich fest, dass keiner mit den Gerätschaften so richtig umgehen und keiner sie reparieren konnte; somit wurden sie defekt hingestellt.  

Es reifte die Erkenntnis, sie bräuchten Arbeiter. Wir meldeten uns dort, und der FDJ-Sekretär versicherte uns, wenn wir dort 1 bis 1 ½ Jahr arbeiteten, könnten wir wiederkommen, um zum Studium zugelassen zu werden. 

Ich muss sagen, die Ausbildung dort war sehr gut und richtig zielgerichtet, ohne Politik. Das war wirklich Arbeiten und Lernen von früh bis abends an den Geräten. Dazu machten wir dann noch die Fahrerlaubnis, das war  wichtig für uns junge Leute. So kam ich praktisch in eine sogenannte MTS (Maschinen Traktoren Station) und hatte 15 Traktoren unter mir; dafür gab es die Berufsbezeichnung des Traktoristen. 

Früh wurde da betankt, und ich musste als Mechaniker nach dem Rechten gucken, also ob die Maschinen abgeschmiert waren, ob alles in Ordnung war, und dann konnten die raus auf ihre Felder. Ich fuhr dann mit dem Motorrad von Feld zu Feld und kontrollierte, ob alles in Ordnung war. Es war eigentlich ein ganz guter Job. 

Chance mit der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF)

Richtig gut war die sogenannte ABF, das heißt Arbeiter- und Bauernfakultät. Dort konnten also Menschen, die schon im Beruf waren, die durch Kriegsereignisse oder weil die Eltern kein Geld hatten, ein Abitur mit 180 Mark Stipendium machen. Diese ABFs waren in der Regel Universitäten angegliedert, sodass danach der Übergang zur Universität möglich war. Das haben recht viele genutzt, die damit die Möglichkeit hatten, ihr Abitur nachzuholen. 

Es war also nicht alles nur schlecht in der DDR, es gab auch gute Ansätze, die aber irgendwie verwässert wurden. Genauso mit diesen Delegierungen zur Oberschule, das hat man dann weidlich ausgenutzt. Wenn da jemand war, der sich in der Kirche engagierte, kamen dessen Kinder eben nicht auf die Oberschule, weil sie eben keine Arbeiterkinder waren, irgendwas hat man immer gefunden. Vieles war gut gemeint, aber es gab vieles, was dann schlecht gehandhabt wurde. 

Endlich im Studium

1957 kurz vor Beendigung der 1 1/2 Jahre ging ich zum Chef von der MTS und brachte meinen Wunsch zum Studieren noch einmal vor. Er sagte: „Kein Problem, ich schreib dir eine Delegierung.“  Ich ging praktisch zum Studium an die Ingenieurschule, und dort sagte man uns direkt am ersten Tag, wo es lang geht: pünktlich alle Tage, kein Schwänzen, es wird die Anwesenheit kontrolliert, zweimal eine 5,  dann wäre man runter von der Schule. Es war also ein recht strenges Regime. 

Ich hatte noch ein bisschen Trubel mit dem Stipendium, statt 180 Mark hatten sie mir nur 120 Mark gegeben, weil mein Vater Angestellter war. Ich widersprach, wieso, ich bin Arbeiter, und da haben wir ewig hin- und hergestritten. Und so nach einem halben Jahr gaben sie dann nach, und ich  bekam die 180 Mark.  

Als neues Lehrfach gab es Marxismus, Leninismus und Ökonomie. In Studentenkreisen wurde nicht viel politisch geredet. Es gab da so kleine Grüppchen, wo man sich sicher war, dass keiner zuhörte … obwohl, ganz so sicher – das habe ich aber erst nachher erlebt – waren wir doch nicht. Da gab es z.B. den Spruch, der angeblich von Karl Marx war: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit (der Spruch ist von Hegel). Das war also das Resultat des Marxismus, Leninismus und Politikökonomie.

Die ersten Semesterferien waren eine große Enttäuschung, wir mussten von unseren Semesterferien 4 Wochen zur Armee in die Garnisonsstadt Prenzlau (Brandenburg). Dort brachte man uns bei, was man alles zum Leben bräuchte. Es ging also los: morgens antreten, 1. Reihe zwei Schritt, 2. Reihe ein Schritt vor, Knöpfe und Schuhe kontrollieren. Dabei merkte der Spieß, dass ich wahrscheinlich mein ganzes Leben die Schuhe falsch geputzt hatte, was mir neu war, man musste nämlich auch den Steg – also zwischen Sohle und Absatz – den musste man auch einschmieren. Zugleich hatten wir täglich 1 ½ Stunden Politik-Unterricht durch Politoffiziere, und wir hingen da ziemlich durch. Man lernte, mit offenen Augen zu schlafen. Der Politoffizier redete sich öfter in Rage, sein Schlusswort war immer: Deutschland den Deutschen, Korea den Koreanern – plötzlich schrie einer von hinten: „Und Indien den Indianern.“ Alles lachte, der vorne bekam eine rote Birne. Und dann ging das Geschrei los. Den armen Hund, der die Indianer nach Indien gebracht hatte, den haben sie von der Schule geschmissen. 

Nach Abschluss der dreiwöchentlichen Übungen wurden wir im Range eines Soldaten entlassen. Nach Abschluss des Studiums und evtl. weiteren Wehrübungen konnten die Absolventen in den Offiziersrang erhoben werden. 

Meine ersten Berufsjahre

Nach meinem Studium wurde ich in einen Betrieb in Weimar verpflichtet.Das war familiär eine Katastrophe. Da meine Frau im letzten Semester ihres Studiums war , konnte sie jede Hilfe gebrauchen, zumal sie sich um unser Kind kümmern musste. Ich versuchte mehrfach, meinen Vertrag zu lösen, nach ca. 6 Monaten war es mir dann endlich gelungen.

Anfang der 1960er Jahre erkannte die Regierung, dass in der Wirtschaft unbedingt eine Verbesserung der Rentabilität erreicht werden musste, zumal die Flucht von Menschen in den Westen den Arbeitskräftemangel und damit den Abschwung der Wirtschaft verstärkte. Es wurden technologische Zentren für die verschiedene Fertigungsgebiete gegründet. So ein Zentrum gab es auch in meiner Heimatstadt Halle. Aus der ehemaligen SLV (Schweißtechnische Lehr- u. Versuchsanstalt ) Halle entstand ein ‚Zentralinstitut‘. Für die neuen Aufgaben wurden Hoch- und Fachschulkräfte dringend benötigt, zumal auch hier die Fluchtwelle große Lücken hinterlassen hatte.

Im Frühjahr 1960 wurde ich somit als Assistent des ebenfalls neuen Forschungsdirektors eingestellt. Mit der neuen Struktur galten auch erhöhte Sicherheitsanforderungen. Als Assistent des Forschungsdirektors hatte ich Zugang zu sensiblen Daten aus Forschung und Industrie. Deshalb wurde ich zur ‚Vertraulichkeit‘ verpflichtet. Mir war klar, dass ich bei den zuständigen staatlichen Stellen dafür überprüft wurde.

Eines Tages sprach ein Mitarbeiter mich an, da er einen ehemaligen Studienkollegen gesehen hatte, der persönlich vom Institutsdirektor durch das Institut geführt wurde. Wir fanden das sehr eigenartig. In der Folge wurden wir darüber informiert, dass das unser Bevollmächtigter der Staatssicherheit ist, der auch ein Büro in unseren Haus hatte. Damit wurden auch häufig Kontrollen zur Sicherheit und den Umgang mit vertraulichen Dienstsachen durchgeführt. In den folgenden Jahren war ich häufig dienstlich in den Staaten des sozialistischen Wirtschaftsgebietes unterwegs und habe dort an Arbeitsgruppen oder Fachveranstaltungen teilgenommen.Später übernahm ich im Institut eine Abteilung, die sich mit der Überprüfung und der Zulassung von Schweißbetrieben befasste. Eine derartige Stelle gab es auch in der BRD, die ähnliche Aufgaben wahrnahm.

Halle an der Saale, heute, 2020 // Foto privat

Westreisekader

In allen Staaten der Erde ist es notwendig, dass sich Wissenschaftler, Ingenieure und Kulturschaffende in einen internationalen Erfahrungsaustausch begeben. Selbst diktatorische Staaten können es sich nicht leisten, z.B. Wissenschaftler von Tagungen, Kongressen und Industriemessen  abzuhalten, da sie für den Fortbestand des Regimes notwendig sind. So war auch die DDR gezwungen, trotz aller Abschottungsmaßnahmen, Menschen die Möglichkeit zum internationalen Austausch zu geben.

Zu dieser Zeit hatte die Regierung der DDR große Anstrengungen zur internationalen Anerkennung unternommen. Die Mitgliedschaft der DDR im internationalen Institut für Schweißtechnik war die Folge. Damit ergab sich, dass eine erhebliche Zahl von Mitarbeitern zu Westreisekadern ernannt werden mussten, um an Kongressen oder Arbeitsgruppen teilzunehmen. Eine Regelung des IIW führte dazu, dass bei Exporten sicherheitsrelevanter Erzeugnisse, eine Überprüfung und Zulassung der jeweiligen Hersteller des Lieferlandes notwendig wurde. Eine gegenseitige Anerkennung wurde ausgeschlossen. Damit mussten weitere Mitarbeiter für diese Aufgaben, die auch eine erhebliche Einnahme an Gebühren in DM erbrachten, vorgesehen werden.

Ich kannte die Regeln der Stasi seinerzeit nicht, aber aus den Befragungen konnte man entnehmen, dass eine Flucht des Ausreisenden in den Westen verhindert werden musste. Mir war klar, dass es regelmäßig Überprüfungen durch die Stasi gab. Das bedeutete z.B.: Die Ehe muss intakt sein, und Kinder in der Familie geben eine Sicherheit, damit der Ausreisende wieder zurückkommt. Wenn der Ausreisende keine Westverwandtschaft hatte, war das ein weiterer Grund für die Aufnahme in diesen Westreisekader. Die Parteimitgliedschaft in der SED war sicher weniger ausschlaggebend, weil selbst eine Reihe von SED-Genossen das Weite gesucht hatten. Bis zum Mauerbau hatten über 2 Millionen Menschen das Land verlassen.Von einer Nachbarin wurde meine Frau darüber informiert, dass 2 Männer bei ihr um Auskunft über unsere Familienverhältnisse und unsere Einstellung zum Staat erfragt haben. Meine Frau war darüber nicht gerade amüsiert. Mein Kommentar dazu: „Die arbeiten an meiner Zulassung als Westreisekader.“

Die Genehmigung wurde zunächst für eine Dienstreise ins damalige Jugoslawien erteilt. Danach erfolgten viele Dienstreisen nach Frankreich, Schweden, Westberlin und in die Bundesrepublik.Zur Vorbereitung der Reisen wurden die Betriebe informiert, die Termine abgesprochen und der Reiseablauf festgelegt. Die Zusammenstellung der Reisegruppen erfolgte zunächst nach fachlicher Kompetenz. Die endgültige Zustimmung erfolgte dann durch das Okay der Sicherheitsstellen. Den grünen Reisepass der DDR erhielten die Dienstreisenden über unsere Reisestelle direkt aus Berlin zugestellt. Der Reisepass musste sofort nach Beendigung der Reise zurückgegeben werden. Die Verhaltensweise gegenüber den Besuchten waren in regelmäßigen Schulungen klar umrissen. Die Gespräche sollten ausschließlich zu fachlichen Themen geführt werden. Politische sowie private Gespräche seien zu unterlassen. 

Nach Ende einer jeden Reise erfolgte die Auswertung. So wurde ein sogenannter24-Stunden Bericht verlangt. Nach Rückreise am Samstag musste dieser Bericht beim zuständigen Bevollmächtigen der Staatssicherheit spätestens bis 8.00 Uhr am nächsten Werktag vorgelegt werden. Der Bericht wurde von jedem Dienstreisenden auf einem einheitlichen Formular erstellt, wobei jeder über die anderen Mitreisenden berichtete. In dem Bericht wurden gezielte Fragen gestellt:z.B.

  • Wer hat das Hotel bestellt? – Name und Anschrift, Zimmer-Nr.
  • Wurde von den Mitreisenden privat telefoniert oder ein Brief  verschickt?
  • Hat sich der Mitreisende von der Reisegruppe getrennt aufgehalten?
  • Hat der Mitreisende Geschenke erhalten. Welche?
  • Wurden abfällige Äußerungen über die DDR und deren Staatsorgane  getätigt?… usw.

Nach Abgabe der Berichte erfolgte häufig eine persönliche Befragung.

Die Reisen waren für mich insofern positiv, da man durch die Vielzahl der besuchten Betriebe seine technischen und technologischen Kenntnisse erweitern konnte. Negativ war, dass die in den Jahren gewachsene Zahl der Neider im Betrieb sich natürlich vergrößerte. Am allerschlimmsten war aber, dass der häufige Kontakt zur Stasi bei Freunden und Kollegen zu Misstrauen führte.

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