Die Bombardierung meiner Kindheit

Da die Ruhr als Transportweg für die großen Kohlenmengen diente und ein niederländischer Unternehmer in Mülheim eine Werft baute, siedelten sich niederländische Familien schon im 18./19. Jahrhundert in Mülheim an. Sie prägten Handel und Wandel in dieser Zeit. Die Sprache wurde ebenfalls durch die geschäftstüchtigen Neubürger ein wenig verändert. Daher ist unser Mülheimer Platt eine Sprachinsel inmitten des sonst westfälischen und rheinischen Sprachgebietes. Viele alteingesessene Familien tragen deshalb auch niederländische Namen als da sind: Wilms, Terjung, Clasen, van den Boom, Becken usw. Durch die gewährte Religionsfreiheit wurden auch Hugenotten nicht nur bis in den Berliner Raum angelockt, sondern es fanden auch einige bei uns ihre Heimat.

Flutwelle aus der Möhnetalsperre

Neben uns wohnte in einem Zimmer eine alte Frau, ihr harter Akzent ließ sie – sobald sie nur den Mund aufmachte – von den Einheimischen abstechen, sie sprach ein besonders ausgepägtes Mölmsch Platt. Eines Morgens rief sie uns aufgeregt zu: „Haben Sie denn nicht gehört, im Lautsprecher?“ Hatten wir nicht, denn in der Nacht davor hatten wir wieder eine Sitzung in unserem Bunker absolviert und waren bleiern müde. Die erwähnten Lautsprecher waren auf mit einem Holzvergaser versehenen Fahrzeug umhergefahren worden. Man forderte uns – also die Bevölkerung mit Wohnort nahe der Ruhr – auf, das Wichtigste zu packen und höher gelegene Stadtteile aufzusuchen. Eine spezielle Bombe der Royal-Air Force hatte die Möhnetalsperre am Oberlauf der Ruhr getroffen und sie auseinandergerissen. Eine Flutwelle befand sich im Anrollen. 

Da das Haus meines Onkels in Saarn auf einem höheren Punkt in Mülheim lag, gaben wir uns dort die Ehre. Meine Tante guckte zwar ein bisschen scheel, aber sie nahmen uns auf. In der Nacht wurde ich aufgeweckt, und jemand sagte zu mir: „Pass gut auf, das musst du sehen, dies musst du später, wenn du erwachsen bist, an deine Kinder weitergeben, so etwas hat es noch nie gegeben.“ Es war eine mondhelle Nacht, daher war die Sicht gut. Dann kam es: Unser Ruhrtal füllte sich, und es bildete sich eine silberglänzende Fläche, in denen dunkle Gegenstände mit rascher Fahrt flussabwärts drifteten. Einige der Erwachsenen hatten Nachtgläser und kommentierten die von ihnen erkannten Gegenstände – ich konnte auch einige Male hindurchsehen. Es war furchtbar, Menschen, Tiere, Hühnerställe, Teile von Fachwerkhäuser, Sträucher, Bäume und immer wieder dunkle Gestalten trieben in Fahrt her und immer mehr Wasser. Das Weitergeben an Jüngere hat sich aber als problematisch erwiesen. Es konnte sich unter dem Druck des Geschehens damals, niemand vorstellen, dass es einmal eine Generation geben würde, die kaum ein Interesse an den ollen Kamellen zeigt. – Unser Haus wurde, da im Schutz der Mülheimer Stadthalle gelegen, verschont, und nicht einmal der Keller wurde überflutet.

Die „Operation Chastise“ (Züchtigung) führten die Briten in der Nacht des 16. auf den 17.05.1943 gegen fünf Talsperren im Sauerland und im Waldecker Land durch. Dabei wurde die von 1908 bis 1913 erbaute, 40 m hohe und 650 m lange Staumauer der Möhnetalsperre zerstört.

Der große Bombenangriff auf Mülheim 

Aus einem mir nicht bekannten Grund war mein Vater im Juni 1943 zu Hause und nicht im Panzerwerk in Duisburg, wo er arbeitete. Die Erwachsenen taten wieder ihren Spruch: „Zieht euch an, und geht ins Bett!“ Kaum waren wir eingeschlafen, begann pünktlich gegen 22 Uhr der Fliegeralarm. „Geh schon mal mit den Kindern in den Bunker“, sagte mein Vater zu meiner Mutter, „wenn es ernst wird, kommen wir nach und bringen die Koffer mit.“ Wir hatten nämlich jeder seine genau zugewiesenen Gepäckstücke bei Alarm mitzuführen, das war ein eisernes Gebot. In diesen Koffern befand sich eine ausgeklügelte Notfallausrüstung. In dieser Nacht wurde allerdings nur mein kleiner Koffer von mir mitgenommen. In diesem Köfferchen befanden sich Nähutensilien, die bei Reparatur oder Neuanfertigung von Kleidungsstücken benutzt werden konnten. Alle weiteren jahrelang bei jedem Alarm mitgeschleppten Klamotten blieben seinerzeit in der Obhut meines Vaters und des Obergefreiten der Marineartillerie. 

Die feindlichen Flieger hielten sich in dieser Nacht an keine Ordnung und warfen einfach ihre Liebesgaben ab, ohne korrekt den Alarm für akute  Gefahr abzuwarten. Einige davon – unter anderem auch Phosphorkanister – trafen unser Haus. Die zwei potenziellen Kofferträger mussten um ihr Leben rennen durch Brand und Phosphor hindurch, natürlich ohne Koffer. Dem brennenden Haus entkommend schlenkerten sie ihre brennenden Schuhe von den Füßen und erschienen im Unterzeug im Bunker. 

Dies geschah in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943. Alliierte Bomberverbände hatten unsere Stadt in dieser Nacht als Ziel. Die Innenstadt wurde zu etwa 85 Prozent zerstört, die gesamte Stadt zu 45 Prozent. Die Fabriken bekamen kaum etwas ab, man hatte es anscheinend auf die Bevölkerung abgesehen. 

Den Humor aber verlor man trotz der Dunkelheit der Zeit nicht. Ich weiß noch, wie bei uns gelacht wurde, als meine Schwester erzählte, dass am zerstörten Textilkaufhaus Rieken ein mit der Hand beschriebenes großes Pappschild angebracht war mit der Aufschrift: ‚Durchgehend geöffnet’. Dies konnte man wörtlich nehmen, man konnte nach der Bombardierung durch den Rest des Häuserblocks nämlich hindurch marschieren. 

Der Abschluss meiner frühen Kindheit ist ziemlich klar definierbar: Die Eltern gingen mit uns Kindern am Tag drauf in die Stadt, um zu sehen, ob die Verwandtschaft noch lebte. Als wir zurückkamen, bogen wir aus alter Gewohnheit in die Bergstraße ein, dort standen wir nun vor dem Trümmerhaufen, der einmal unser Zuhause war. Vater griff in die Tasche, knirschte dabei mit den Zähnen – denn Weinen war ja damals eines deutschen Mannes nicht würdig, warf den herausgeholten Haustürschlüssel in den Trümmerring: ‚Dich brauchen wir nicht mehr.‘ Dann machten wir uns auf den Weg zu meinem Onkel.

Der stärkste Angriff auf Mülheim in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943 forderte 530 Tote.

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1 Gedanke zu „Die Bombardierung meiner Kindheit“

  1. Ich würde Mülheim an der Ruhr nicht als „Sprachinsel“ bezeichnen. Der holländische Einfluss wurde früher überschätzt. Inzwischen weiß man, dass Mölmsch Platt zwar eine Mischsprache ist, sich aber nicht wesentlich von den anderen Ortsdialekten des Niederfränkischen an der unteren Ruhr unterscheidet.

    Die übrige Schilderung finde ich sehr interessant!

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