Eine weihnachtliche Schlittenfahrt der besonderen Art

1935

Als ich vor einigen Tagen unter Corona-Bedingungen bei REWE an den Auslagen mit Milchprodukten vorbei schlenderte, entdeckte ich ein Regal gefüllt mit Schweineschmalzbechern. Da traten plötzlich Erinnerungen aus meiner Kindheit auf, die im positiven Sinne mit Schmalz zu tun hatten. 

Es muss 1935 gewesen sein, also zu einer Zeit, als die Winter in unserer Region noch “weiße Weihnachten“ bescherten. Ich war damals also 7 Jahre alt, und wir wohnten in Mülheim-Heißen in der Heinrichstraße, die am Ende auf die Mitte der Eisensteinstraße stieß, welche vom oberen Teil bis ins Tal steil bergab ging. Dieser Straßenbereich eignete sich im Winter hervorragend zum  „Pickern“, wie man Rodeln damals hauptsächlich nannte. 

Diese Bahn sorgte nicht nur wegen des starken Gefälles für hohe Geschwindigkeiten, sondern auch aufgrund der teilweise „künstlich“ erzeugten Eisfläche. Diese kam dadurch zustande, weil ein modernes Kanalnetz dem genannten  Bereich noch versagt geblieben war, sodass die Abwässer über die Straße ins Tal liefen. Normalerweise stank es hier mächtig, aber im Winter machte die Eisbildung das Ganze einigermaßen erträglich.     

Leider hatte die Bahn auch einen Schwachpunkt, Ihr fehlte nämlich ein sanfter Auslauf. Beim Abschluss jeder rasanten Fahrt war energisches Stoppen mit den „Klottschen“ (Holzschuhen) notwendig.  Wenn das Bremsen jedoch missglückte, verlagerte sich der Haltepunkt mitten in einen tieferen Graben. 

Am Heiligabend 1935, es hatte wieder einmal kräftig geschneit, ging mein Wunsch nach einem eigenen Schlitten in Erfüllung. Nach dem Entfernen des über den Gabentisch ausgebreiteten weißen Tuches kam er als Marke „Eigenbau“ zum Vorschein. Sein Aussehen ähnelte dem einer Kiste, an der man den Boden, das Vorder- sowie das  Hinterbrett vergessen hatte. Die stabilen Seitenteile waren unten mit geschmiedeten Kufen versehen. In Mülheim nannte man ein solches Gerät „Pickschlee“. Die Kinder besser gestellter Eltern fuhren den „Davos Rodelschlitten“. Er sah eleganter aus, war aber in punkto Robustheit und Wendigkeit dem „Pickschlee“ um einiges unterlegen. 

Am 1. Feiertag war es dann so weit. Die erste Probefahrt konnte beginnen. Meine Eltern waren davon nicht begeistert, denn es war schließlich Weihnachten, das Fest der Familie, und ich hatte  Sonntagskleidung an. Als Willi, Sohn des Bäckereibesitzers, und Otto, Sohn des Metzgers, Sturm klingelten, gab es für mich kein Halten mehr. Ab heute war ich ja stolzer Besitzer eines eigenen Schlittens und nicht nur Mitfahrer. Darüberhinaus war mein Gefährt bestens geeignet, beim angekoppelten Fahren die Lenkfunktion zu übernehmen. 

In ausgelassener Stimmung zogen wir über die Bonnstraße Richtung  Eisenstein. Es herrschte bereits reger Betrieb. Wir fuhren in einer „Dreier- Kupplung“. Weil wir genügend Platz hatten, durften auch Mädchen aus unserer Klasse mitfahren. Die Talfahrt dauerte, da wir immer gute Zeiten herausholten, nur knapp 2 Minuten, dagegen nahm der Rückweg mindestens 10 Minuten in Anspruch. 

Der Nachmittag verlief wie im Fluge. Vergessen waren das Kaffeetrinken und der sicherlich schon eingetroffene Verwandtschaftsbesuch. Es fing bereits an zu dämmern. Da ich bisher mit meinem Schlitten der „Lenker“ war, wollte ich auch mal hinten sitzen. So wechselten wir die Plätze, was sich innerhalb weniger Minuten als nicht klug herausstellte.

Der Start war toll. Wir nahmen Fahrt auf. Die Mädchen kreischten, und wir Jungen brüllten vor Begeisterung. Nun näherten wir uns der kritischen Stelle am Ende der Bahn. Steuermann Willi bekam den Verband zwar zum Stehen, aber die Konkurrenz hinter uns sauste mit einem Affenzahn – wie man heute sagen würde – auf den letzten angehängten Schlitten zu, auf dem ich saß. Ich hielt mich gerade noch an den Sitzspanten hinten fest, als es schon knallte.

Durch die Kraft des Aufpralls machte ich einen Salto in den Graben und verspürte einen höllischen Schmerz im rechten Daumen. Blut spritzte. Und als ich den Daumen betrachtete, sah ich, dass er im wahrsten Sinne des Wortes platt war und keinen Nagel mehr hatte. Jeder hat schon einmal einen mehr oder weniger eingerissenen Fingernagel erlebt und weiß, wie sich das anfühlt. Es ist jedoch kaum zu beschreiben, wie es ist, wenn man bei einem vollständig abgerissenen die „Engelchen singen hört“. Im Mittelalter hatte man auf diese Weise Geständnisse erpresst. 

Was nun? Niemand hatte Erfahrung, mit einer solchen Situation umzugehen. Niemand hatte Verbandszeug dabei. Die Möglichkeiten, telefonisch Hilfe anzufordern, waren nicht vorhanden. Heute besitzt fast jedes Kind ein Handy, aber damals besaßen hauptsächlich nur Geschäftsleute ein Telefon. So handelte ich nach der früheren oft angewandten Empfehlung: „Wenn et weh daid, dreh en Läppken dröm!“ Es tat aber nicht nur weh, sondern es blutete unaufhörlich. Hinter mir zeichnete sich eine rote Spur ab, und der Weg nach Hause schien endlos.

Meine Mutter ahnte nichts Gutes, als sie aus dem Stimmengewirr meine weinerliche Stimme im Hausflur erkannte. Bevor Sie sich um mich kümmerte, bekam ich zunächst einmal die obligatorische Frage gestellt: “Wat hässe denn do chemackt?“

Während ich den Hergang in gestammelten Sätzen zu beschreiben versuchte, bemühten sich Onkel und Tanten mit guten Ratschlägen zu helfen, leider aber ohne Erfolg. Das  Blut rann immer noch und musste gestillt werden. 

Mein Vater, ein fronterprobter Musketier mit Erste-Hilfe-Erfahrung aus dem 1. Weltkrieg, hatte die rettende Idee: Schweineschmalz! Das war in jedem Haushalt vorhanden. Es wurde fingerdick auf den Daumen gestrichen und welch Wunder: Die Schmerzen ließen nach und das Bluten hörte auf. Erst am nächsten Tag sah sich ein Arzt die “weihnachtliche Bescherung“ an und spendete dem einfallsreichen Helfer – sprich meinem Vater – ein ehrliches Lob aus.

Mein Daumen hatte seit dem sein Aussehen reichlich verändert. Er wurde zum Erkennungszeichen. In manchen Ausweisdokumenten stand später bei der Frage „besondere Kennzeichen“ die Eintragung: “Verkrüppelter Daumen“.

Wenn ich mir heute ein „Dubbele“ mit Schmalz schmiere, erlebe ich nicht nur den von mir wieder neu entdeckten köstlichen Geschmack, sondern auch die Kindheitserinnerung an das Wunderheilmittel „Schweineschmalz“ am 1. Weihnachtstag 1935.

Celebrate this day together

Konzertmitschnitt CV 15.12.2013
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1 Gedanke zu „Eine weihnachtliche Schlittenfahrt der besonderen Art“

  1. Eine sehr schöne Geschichte – lieber Herr Heckmann. Ich werde bei der Verwendung von Schweineschmalz (ab und an zum Kochen) nun immer an Ihren Daumen denken (müssen).
    Erfreuen Sie uns bitte noch viele Jahr mit Ihren Erinnerungen.

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