Nikolaus und Knecht Ruprecht

Es war Nikolaus Abend 1959, und ich war 10 Jahre alt. Wie wahrscheinlich viele Kinder wartete ich auf das große Ereignis, denn der Nikolaus hatte sich bei meinen Großeltern angemeldet, um mir ein Geschenk zu überreichen.

Den ganzen Tag über war ich aufgeregt, gleichzeitig jedoch voller Vorfreude auf diese Begegnung. Gegen Abend gingen meine Eltern mit mir zu den Großeltern, und ich sprang bei den kleinsten Geräuschen zum Fenster, um zu schauen, ob der Nikolaus kommt. Plötzlich ein lautes Klopfen an der Haustüre. Meine Oma lief in den Flur und begrüßte den Nikolaus und seine Begleitung, Knecht Ruprecht, herzlich. 

Dann betraten beide das Wohnzimmer, und der Nikolaus setzte sich in einen Sessel. Den mit Geschenken gefüllten Sack stellte er vor sich hin. Er begrüßte mich mit Handschlag und forderte mich auf, dass ich mich auf seinen Schoß setzen sollte. Ich trat einen Schritt zurück und erwiderte, das ich dies nicht wollte. Ich hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als Knecht Ruprecht mit erhobener Rute auf mich zukam und zu mir sagte: „Wenn du dich nicht sofort auf den Schoß vom Nikolaus setzt, dann bekommst du die Rute kräftig zu spüren.“ Ich war über diese Drohung sehr erschrocken, denn  meine Eltern hatten mir beigebracht, mich nicht von einem fremden Mann anfassen zu lassen, nicht mit Fremden mitzugehen. Nun sollte ich geschlagen werden, was ich überhaupt nicht kannte, und das nur, weil ich eine  Aufforderung verweigert habe.

Es verging keine Sekunde, als die Stimme meines Vaters aus dem Hintergrund ruhig, aber voller Nachdruck sagte: „Wenn meine Tochter nicht möchte, dann braucht sie es nicht, wir sprechen uns gleich vor der Türe.“ Daraufhin fragte mich der Nikolaus, ob ich ein Gedicht aufsagen würde. Diesen Wunsch erfüllte ich ihm gerne. Anschließend bekam ich mein Geschenk. 

Mein Vater begleitete beide Herren aus dem Raum und im Flur hörte ich meinen Vater einige Sätze sagen, die ich nicht verstehen konnte. Beide Männer haben sich wohl entschuldigt.

Jutta Loose
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2 Gedanken zu „Nikolaus und Knecht Ruprecht“

  1. Liebe Frau Büttner,

    ich freue mich, dass Sie sich für unseren Adventskalender interessieren und selber eine kleine Geschichte erzählt haben. Es ist besonders schön, dass in der jetzigen kontaktloseren Zeit die Erinnerungen an früher wieder belebt werden.
    Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Freude beim Lesen unserer Geschichten.
    Mit besten Grüßen Jutta Loose

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  2. Ich kann mich erinnern, dass zu meinen Großeltern der Nikolaus als Bischof kam, in Begleitung von Knecht Ruprecht. Wenn die Erwachsenen sich nicht gut aufführten, bekamen auch sie die Rute zu spüren. Vor Nikolaus-Helfern hatte ich schon ordentlich Respekt.
    Dass der Nikolaus nicht immer echt war, wusste ich durch die Aufführungen auf der Weihnachtsfeier beim Blindenverein. Dort musste ich als Engel Gedichte aufsagen, und mein Vater spielte den Nikolaus mit Mitra.
    Diese Spannung vor dem Nikolaus war aufregend. Daher kann ich gut verstehen, wenn meine Enkel beim Aufstellen der Stiefel ganz aufgeregt und hibbelig sind. Ich hoffe, viele Kinder können das heute empfinden und erleben.

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