Ich möchte Ihnen etwas erzählen über die verschiedenen Besatzungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die ich mitgemacht habe. Das war mehr oder weniger eine recht lange Zeitspanne.
Wie Sie ja wissen, ich bin Jahrgang 1922, bei Kriegsausbruch 11 Jahre, bei Kriegsende 17 Jahre gewesen. Kurz vor dem Zusammenbruch war ich als Jugendlicher Panzergrenadier auf dem Rückzug von der Oder runter zur Elbe. Unterwegs bewegten einen natürlich noch die Gedanken, leben die Angehören noch, lebt die Mutter noch – die in Thüringen evakuiert war – wo steckt der Vater – der war bei den Landesschützen, der schwirrte auch irgendwo rum – und was blüht uns jetzt in der Gefangenschaft? Man hatte ja genügend Feindbilder aus den Wochenschauen und aus dem Rundfunk erhalten. Da waren ja einmal die „Terrorangriffe“, wie sie die Alliierten die Westmächte durchführten, was ja auch nicht gerade human war, andererseits wieder die Russen, die sich dadurch auszeichneten, die Leute zu verschleppen und Frauen zu vergewaltigen. Die Flüchtlinge aus Ostpreußen, die Zu Beginn des Jahres 1945 das Gebiet dort verlassen hatten, konnten genügend Geschichten davon erzählen. Wie war also das Rachegefühl der Sieger? Das waren Fragen, die mich durchaus bewegten.
Es kam nun der 9. Mai, wir waren 10 km von der Elbe entfernt und marschierten in Dreierkolonne in die Gefangenschaft und machten dann die ersten Bekanntschaften mit den Amerikanern, das waren für uns Menschen wie aus einer anderen Welt. Die fielen schon dadurch auf, dass die Uniformen wesentlich eleganter waren als die unserigen: Es waren sportlich geschnittene Jacken und statt Stiefel Schnürschuhe – wir trugen damals sogenannte Knobelbecher, die nicht gerade vor Schönheit strotzten. Die größte aller Fragen war aber bei Tag und Nacht: Was macht jetzt der Ami mit uns? Denn es waren immerhin Tausende von Leuten, die da zurückflossen. Die trieben uns erst mal zu einer Sammelstelle, das war südlich von Schwerin auf einem großen Flugplatz, da passten 80.000 bis 100.000 Lanzer drauf, und die kampierten da auf dem Feld ohne Wasser, Verpflegung und ohne hygienischen Einrichtungen. Sie können sich vorstellen, wie das da aussah. Von der amerikanischen Besatzung sahen wir eher weniger, denn es wimmelte auf dem Platz nur so von Lanzern, und die Soldaten hielten sich auch eher außerhalb auf, damit keiner flüchten konnte – das war damals eine total überflüssige Sorge. Was erfuhren wir dort also? Die Amerikaner waren hart, mitunter auch etwas arrogant, aber ansonsten sehr fair. Ihnen war damals ja von ihrer Regierung verständlicherweise eingetrichtert worden, die Deutschen als Feind zu betrachten, um keine Verbrüderung aufkommen zu lassen. Trotzdem kam es dann doch in der Bevölkerung nachher zu freundschaftlichen Kontakten. Sie herzten Kinder dadurch, dass sie Schokolade, Kaugummi, Bonbons usw. verteilten.
Wir hatten großes Glück, dass – und das war die erlösende Botschaft – wir nicht den Russen ausgeliefert wurden, sondern von den Engländern übernommen wurden. In Transporten nach Schleswig-Holstein gekarrt kamen wir nach Eutin in die Wälder. Von den Engländern hatten wir einen ähnlichen Eindruck: Man sah wenig von ihnen, sie hatten andere Uniformen, ein bisschen gröber im Schnitt. Sie teilten uns in Gruppen, Zügen und Kompanien ein. Die Vorgesetzten unter uns behielten ihre Rangabzeichen, und es herrschte auch eine ziemliche Disziplin, was sich ganz gut auswirkte. Die Engländer selbst hatten Schwierigkeiten mit der Verpflegung, die war katastrophal, und an Flucht war da auch nicht zu denken. Die Engländer waren uns gegenüber schon so loyal, dass, um keinen Lagerkoller aufkommen zu lassen, sie sogar erlaubten, eine Big-band zu gründen. Es waren unter uns nämlich auch gute Musiker, und da haben wir in Malente bei schönem Wetter so eine ganz gute Zeit verlebt … wenn nicht der Hunger so groß gewesen wäre. Sehr viele konnten sich nur noch am Stock fortbewegen.
Ich hatte dann das Glück, dass ich, als Bergleute für das Ruhrgebiet gesucht wurden, die Möglichkeit hatte, mich dazu zu melden und kam dann in das große Gefangenenlager nach Rheinberg. Dort herrschten andere Sitten, weil die nach SS-Leuten suchten, was sich bei den Verhören niederschlug, man wurde schon sehr hart von den Engländern in die Mangel genommen. Aber Ungerechtigkeiten oder irgendwelche Übergriffe gab es da auch nicht. Auch nachher in der Zeit in Mülheim kann ich mich an keine Ereignisse dieser Art erinnern. Es gab wohl hier und da Schwierigkeiten, dass die Hausbesetzungen ungerecht verteilt wurden und dergleichen. Aber im Großen und Ganzen waren die westlichen Alliierten als Besatzungen doch so human, dass man später doch aus diesen Zonen eine vernünftige deutsche Republik, also eine Bundesrepublik schaffen konnte.
Dann ging es weiter: Bekanntschaft mit der sowjetischen Besatzung. Meinem ebenfalls inzwischen heimgekommenem Vater und mir lagen hauptsächlich das Schicksal meiner Mutter und ihre Rückholung am Herzen. Die Grenze an der sowjetischen Zone war noch offen, aber wie lange noch? Was erwartet uns in der sowjetischen Zone, wenn wir dort hinfahren? Nichts Gutes, und dafür gab es unzählige Gründe, denn die Russen wurden damals von uns überfallen, obwohl wir mit denen einen Nichtangriffspakt hatten. 14 – 16 Millionen Zivilisten kamen ums Leben. Von den 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen kamen 3,3 Millionen in Deutschland um, und 14,6 Millionen Sowjets blieben im Krieg. Hierüber waren die Rotarmisten, als sie deutsches Gebiet betraten, wohl informiert, und das waren keine guten Vorzeichen für unsere Aktion und auch für unser Vorhaben.
Wir versuchten zunächst mit den Zügen, die doch hin und wieder mal fuhren, nach Thüringen zu kommen. Es gab keinen planmäßigen Bahnverkehr. Wenn ein Zug fuhr, dann nur auf Teilstrecken, meistens hing man da auf dem Trittbrett oder den Puffern zwischen den Waggons, oder es ging per Anhalter mit Holzkohle angetriebenen Lastwagen ein paar Kilometer weiter. unser Ziel war Duderstadt bzw. Bad langensalza, und dafür brauchten wir mehrere Tage. Wir fanden meine Wahlheimat im mittelalterlichen Stadtwall Langensalza fast so, wie wir es verlassen hatten, nämlich da war kein Haus zerstört und nichts. Meine Mutter wohnte noch in einer Villa bei einem Steinbruchbesitzer, aber unter dem Dach hatten sich mehrere russische Offiziere mit einem Burschen einquartiert. Wir konnten, als wir uns da wiedersahen nur den Worten anschließen: Hurra, wir leben!
Unterschiedliche Gründe hielten uns aber davon ab, sofort gen Westen zurückzukehren. Dadurch mussten wir allerdings die augenblicklichen Zustände unter der sowjetischen Besatzung in Kauf nehmen. Dazu nenne ich Ihnen ein Beispiel: Die Rotarmisten stellten sich als Radfahrkünstler heraus. Wenn die Ausgang hatten, wimmelte in der kleinen Stadt, die nur 12.000 Einwohner hatte, eine ganze Division von Russen. Meistens waren sie betrunken, pöbelten die Passanten an und spähten nach Beute aus. Beliebt waren Armbanduhren, da hatten sie mitunter 5 bis 10 Stück an einem Arm; ob sie die Uhrzeit lesen konnten, war ein großes Fragezeichen, es war denen gar nicht zuzumuten. Dann waren Fahrräder begehrte Objekte. Die wurden dem Besitzer einfach beim Vorbeifahren weggenommen, und dann versuchten sie, sich darauf fortzubewegen, aber weil sie betrunken waren, verloren sie meist das Gleichgewicht und fielen dann auf die Nase unter dem Gelächter der umstehenden Zuschauer.
Eine zweites Beispiel war die deutsch-sowjetische Freundschaft – ein wohl gebrauchtes Wort dort drüben – und Wodka erhöhte insbesondere das Wohlbefinden der Rotarmisten. Im Gegensatz zu den westlichen Alliierten suchten die Russen die Bekanntschaft mit der deutschen Bevölkerung, vor allem zu den Frauen. Sie machten sich einen Spaß daraus, vorübergehende Passanten mit Alkohol abzufüllen. Je größer der Widerstand von so einem armen Kerl war, so großzügiger fiel die Entrichtung aus, wobei dann auch mitunter sexuelle Berührungen bei den Frauen den Spaß noch erhöhte. Das war natürlich eine merkwürde Form von Kontaktaufnahme.
Ein drittes Beispiel: Die Soldaten waren gewöhnlich mit Pistolen bewaffnet, und so wurden in den Parkanlagen dann Schießübungen gemacht. Da flogen die Geschosse einem nur so um die Ohren, so dass man dachte, man wäre getroffen worden. Also musste man diese Gegend natürlich meiden. Ziele ihre Schießübungen waren Tauben, leere Schnapsflaschen und leere Konservendosen.
Dann das vierte Beispiel: Langensalza verfügte damals über 5 Tanzcafés. Die wurden schon früh dort wieder zugelassen. Unser bevorzugtes Lokal war die Reichskrone. Da spielte eine 4-Mann-Kapelle deutsche Schlager, beliebt waren damals die sogenannten Schieber, „Ja, wir sind Zigeuner“ oder „Ein Abend auf der Heide“, nach diesen Lieder wurde richtig geschwoft. Die Auswahl der tanzlustigen Frauen war groß, dagegen die Auswahl der Getränke sehr bescheiden. Das Angebot bestand hauptsächlich aus Heißgetränken und Sprudel mit Geschmack. Wenn ein paar russische Offiziere – das einfache Personal war inzwischen kaserniert und durfte nur in geschlossenen Gruppen unter Aufsicht eines Offiziers die Kaserne verlassen – das Lokal betraten, wusste man, das gibt gleich Ärger. Ich befand mich einmal gerade mit einer – für meine Begriffe – hübschen Tänzerin auf dem Parkett, da dauerte es auch nicht lange, als einer der ungebetenen Gäste auf uns zutaumelte und mich mit den Worten beiseite stieß: „Ich tanzen – du weg!“ Ob meine Begleiterin nun wollte oder nicht, sie musste tanzen und wurde nachher einfach auf der Tanzfläche stehen gelassen. Ähnlich haben die anderen verfahren. Alle Gäste, auch der Inhaber, hatten keine Möglichkeit, solche Verhaltensweisen zu unterbinden.
Ein fünftes Beispiel: Es war kurz vor Mitternacht, als gegen unsere Wohnzimmertür heftig mit den Fäusten getrommelt wurde. Es schallte laut: aufmachen, aufmachen! Meine Mutter, mein Vater und ich fuhren hoch, einer von uns öffnete die Wohnungstür, und vor uns standen mehrere Beamte, Soldaten und ein Offizier. Ich wurde aufgefordert, mich anzuziehen und mitzukommen. Auf die flehenden Fragen meiner Mutter, was los sei, bekam sie auf russisch irgendeine Antwort, die keiner verstand, aber auch alles heißen konnte. Vor der Haustür stand bereits ein LKW, auf dem schon einige andere Jungen und Männer saßen, alle in meinem Alter. Keiner wusste, wohin die Reise ging; es hätte irgendein Lager in der Region sein können, das konnte ebenfalls Sibirien sein. Mit diesen Gefühlen fuhren wir die Landstraße Richtung Erfurt. Am Ortsende von Langensalza nahm der LKW Kurs auf den Bahnhof Ost. Nun, da war unsere Vermutung, es würde eine lange Reise auf uns zukommen. Es befand sich aber ein Güterzug vollbeladen mit Kohlen auf einem Gleis. Die Wachleute drückten uns Schippe und Schaufel in die Hand und machten uns klar, dass ein Waggon geleert werden musste. Es dauerte nicht lange, bis noch weitere LKWs für den Abtransport ankamen. Mit 5 Mann begannen wir dann die Herkulesarbeit. Es dauerte bis zum frühen Morgen, bis endlich der Waggon leer war. Dabei hatten wir aus der Not eine Tugend gemacht und schaufelten in regelmäßigen Abständen statt in den LKW die Kohlen auf die Gegenseite in die Büsche und sicherten uns damit Brennmaterial für uns selbst, was wir in den nächsten Tagen abholen wollten.
Und jetzt zum Schluss noch eine Episode: Mein Vetter Helmut, der aus einem Prager Lazarett entlassen war, machte auf dem Weg nach Mülheim bei uns Zwischenstation und wohnte einige Tage bei uns. An einem Nachmittag kam ein Offiziersbursche, ca. 20 Jahre alt, mit einer Flasche Wodka ohne anzuklopfen zu uns ins Zimmer, um sie mit uns zu leeren. Um nicht in Ungnade zu verfallen, machten wir von dem Angebot Gebrauch und füllten das scharfe Zeug bei vorgetäuschter Laune hinunter. Es kam dann auch das Gespräch auf den Krieg und der Junge Russe fragte meinen Vetter, wo er denn in Russland gewesen sei. Nichts Böses ahnend erzählte er es und erwähnte beiläufig dabei auch noch die Tapferkeit der Roten Armee. Es wurde sich umarmt und gesungen. Plötzlich stand er auf, verschwand und kam mit einer Maschinenpistole zurück. Er zielte auf meinen Vetter und schrie: „Du Nazi!“ und schoss dabei in die Decke. Wir nahmen alle Deckung und hörten die Offiziere von oben runtereilen. Sie führten den durchgeknallten Rotarmisten aus der Wohnung. Wir waren mit dem Schrecken wieder davongekommen. Am anderen Tag war die Welt auch nur scheinbar wieder in Ordnung.
Nun, da gab es auch einige positive Beispiele, die will ich auch nicht auslassen: Da war z. B. das Verhältnis zu den Offizieren in unserer Wohnung. Zwar waren sie reserviert, andererseits aber auch freigiebig und hilfsbereit. Meine Mutter war damals 48 Jahre alt, resolut, putzte und kochte im Bedarfsfall für unsere einquartierten Gäste. Sie wurde immer Buschka genannt und hatte die Bagage ansonsten gut im Griff. Hin und wieder landete ein Fleischbrocken in den undurchsichtigen schwarzen Putzwassersud. Dasselbe geschah mit den herumliegenden Hühnereiern. Anschließend gut gewaschen verzehrten wir die als Delikatesse. Ein Obermann der Gruppe hatte die Fähigkeit meines Vaters entdeckt, der die umgestürzten Bäume und Fahrräder reparieren konnte. Er verschaffte ihm Kunden aus seinen Besatzungskreisen, die uns dann mit Naturalien wie Brot, Eier und Öl oder Tabak bezahlten und für ihn Propaganda machten. Es entwickelte sich dadurch mit der Zeit ein einträchtiger Geschäftsbetrieb. Dadurch lernten wir unter den Besatzern Leute kennen, die uns Vorteile verschaffen konnten. So ergab sich für meinen Vater und mich die Möglichkeit, im Verpflegungslager in der Kaserne zu arbeiten und so ganz nebenbei die Hilfsmittel für private Zwecke abzuzweigen.
Nachdem der Befehl der russischen Administration herausgekommen war, dass Rotarmisten die Kasernen nur in Gruppen und in Begleitung eines Offiziers verlassen durften, verbesserte sich das Sicherheitsgefühl. Ein weiterer positiver Punkt war meine Bekanntschaft mit einem jüdischen Hauptmann, der perfekt Deutsch konnte. Er setzte sich für das Zustandekommen einer hohen Freizeit ein und ließ uns Nutznießer seiner Beziehung zu der Stadtkommandantur werden. Nicht zuletzt fanden wir Gehör bei ihm, auch im privaten Leben. Durch ihn wurde später die Jugendbewegung „Freie Deutsche Jugend“ gegründet.
Ich habe hier persönliche Erlebnisse unter der sowjetischen Besatzungsmacht in der Zeit zwischen 1946 bis 1952 geschildert, in der auch die Gründung der DDR stattfand. Ich erinnere mich sehr genau an die teilweisen folgenschweren Maßnahmen der Enteignung, der Bodenreform, der Schulreform etc.
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