Leben mit einem Kriegsversehrten

Für mich war es nie eine Befremdung, meinen Vater mit den Folgen seiner Verwundungen wahrzunehmen. Ich habe akzeptiert, dass mein Vater anders aussieht als andere Männer, schließlich bin ich ja mit ihm aufgewachsen. In der Schule war ich die einzige, die einen Vater hatte, an dem man wirklich die Folgen des Krieges so offensichtlich sehen konnte, denn er konnte an dem rechten Arm keine Prothese tragen. 

Alle, besonders auch meine Freundinnen, gingen mit meinem Vater völlig unkompliziert um. Mein Vater gab zur Begrüßung die verletzte linke Hand, und zwar so, dass der Daumen nach unten zeigte. Auch war das Gefühl bei der Berührung anders, da seine Hand sehr schmal war. Aber keiner hatte damit ein Problem oder stellte Fragen. Er war jedem stets und entgegenkommend zugewandt.

Verwundung

Mein Vater diente auf dem Flottentorpedoboot T28, das in den Jahren 1944-45 Einsätze in der Ostsee, im Kanal und an der Küste von Nordfrankreich fuhr. Hauptaufgaben waren das Räumen und Setzen von Seeminen, Wasserbomben und Torpedos zur Abwehr von feindlichen U-Booten und Kriegsschiffen. Die T28 verfügte aber auch über teilweise mittelschwere Geschütze und Maschinengewehre zur Flugabwehr. Erwähnenswert wäre noch zu sagen, dass die T28 das einzige Torpedoboot war, welches nahezu unversehrt den Krieg überstand und später in die Französische Flotte übernommen wurde. 

Mein Vater bediente mit seinem Freund die 2 cm Vierlings-FLAK-Lafette C38. Am 08.03.1945 kam es zu heftigen Luftangriffen von Tieffliegern auf sein Schiff in der Nähe von Dänemark, wobei der Freund meines Vaters sein Leben verlor. Dieses Datum war vermerkt auf der urkundlichen Auszeichnung für das silberne Verwundetenabzeichen meines Vaters, welches sich in seiner alten Brieftasche verbarg.

Leider wurde mein Vater durch besagten Angriff schwerst verwundet. Ihm wurde die rechte Hand sowie ein Teil des rechten Unterarms abgerissen, das rechte Schultergelenk war mehrfach durchschossen worden und die Nervenbahnen, die zur Beweglichkeit des Armes beitrugen, zum größten Teil zerstört. 

Die linke Hand war so erheblich verletzt, dass er nach über 20 Operationen nur noch 3 Finger und den Daumen besaß, die Handfläche war bloß noch zu etwa zwei Dritteln erhalten. Sie war komplett von einer großen Narbe durchzogen, die sich in der Innenhand- und auf der Außenhandseite zeigte. Der Arzt, der die Hand noch retten konnte, vollbrachte im Grunde genommen ein Wunder, denn es gab immer wieder gravierende Komplikationen und  Rückschläge im Heilungsprozess zu bewältigen, was seinen Aufenthalt im Lazarett und in den Krankenhäusern extrem lange andauern ließ, er kam nämlich erst 1947 wieder nach Hause. Er stand 1947 einfach überraschend vor der Tür seiner Eltern, die bis dahin kein Lebenszeichen von ihm bekommen hatten. – So wurde es mir jedenfalls erzählt.

Die Lähmungen im Oberarm und im Schulterbereich erschwerten ein stabiles Stehen und Gehen, und so war es für meinen Vater schwierig, die Balance zu halten, und es kam zu Stürzen. Deswegen eignete er sich im Laufe der Zeit eine möglichst kerzengerade Körperhaltung an, welche die Unsicherheit milderte. 

Phantomschmerzen beeinträchtigten ihn nicht  nur tagsüber, sondern in vielen, vielen Nächten. Diese  schlaflosen Nächte meines Vaters blieben auch vor mir nicht verborgen.

Beschränkungen im Alltag

Die Behinderung meines Vaters machte sich insbesondere auch im Alltag bemerkbar. Die Handhabung eines Messers bereitete ihm durch die eingeschränkte Feinmotorik große Schwierigkeiten: Er rutschte vom Teller oder Frühstücksbrett ab. So war es ihm nicht möglich, einen Manschettenknopf in die Hemdmanschette zu führen, Knöpfe zu schließen, insbesondere im Hemdkragenbereich, war unmöglich. Das Binden einer Krawatte führte meine Mutter aus, die Schuhsenkel konnte er sich nicht binden, Reißverschlüsse an Jacken zuschließen ging gar nicht. Selbst das Bedienen eines Feuerzeuges war nicht möglich; ich weiß nicht, wie viele Varianten meine Mutter besorgt hatte in dem Versuch, er könnte eines selbst bedienen. Handwerkliche Arbeiten – und waren sie noch so minimal – musste ein Handwerker durchführen. Es gab noch so viele andere Hilfestellungen, die geleistet werden mussten, aber die Liste würde zu lang werden.

Was für meinen Vater auch ein großes Problem darstellte, war die Bedienung elektrischer Geräte, bei denen die Feinmotorik gefragt war, da die An-und Ausschaltknöpfe schwierig für ihn zu betätigen waren. Ich weiß nicht, wie viele Elektrorasierer er hatte, mit denen er nicht zurecht kam. Desgleichen geschah mit elektrischen Gerätschaften für den Gartenbereich. Auch hier war es eine große Herausforderung für ihn, sie zu bedienen. Er konnte keinen Nagel in die Wand schlagen, keine kleine Reparaturen im Haushalt durchführen und keine Bilder aufhängen.

In grobmotorischen Angelegenheiten konnte er sich besser behelfen. So pflegte er so gut es ging mit seinem intakten Arm unseren Garten. Selbstverständlich übernahm meine Mutter einen großen Teil der Arbeiten, z. B. Graben, Einsäen und Pflanzen usw. Da er aber sehr gerne seinen Garten pflegte, mussten an Harken und Fege-Gerätschaften lange Stiele angebracht werden, damit er sie beim Harken oder Fegen usw. unter die rechte Achsel klemmen oder in einen Ärmel seiner Jacke stecken konnte, damit dadurch genug Halt gegeben war und er langsam harken, rechen und fegen konnte.

Staubsaugen mit einem Standgerät ging recht gut, und so hat er es zu seiner Aufgabe im Haus gemacht. Damit das Tragen des Staubsaugers wegfiel, befand sich auf jeder Etage ein Gerät.

Kam allerdings ein Paket und der Postbote legte es im Flur auf den Boden, konnte es mein Vater mit der einen Hand nicht aufheben. So schob er es mit dem Fuß zur Seite, bis meine Mutter oder ich anwesend waren und es aufheben konnten.

Erwähnen möchte ich noch, dass mein Vater das Schreiben wieder gelernt hatte. Allerdings war sein Schriftbild klein und gestaltete sich schräg, aber zum Lesen war es ausgezeichnet.

Schweigen

Durch die Folgen der ausgeprägten Kriegsbeschädigung meines Vaters war unser Leben anders als das einer Familie, in der Eltern und Kinder gesund sind. Dennoch haben meine Eltern mir das Gefühl gegeben, in einem gesicherten und behüteten Elternhaus aufwachsen zu können. Innerhalb der Familie wurde über seine Kriegsbeschädigung allerdings nie gesprochen. Meine Eltern haben in meiner Gegenwart nie den Krieg erwähnt und wollten auch nicht darüber sprechen. Das Grauen war zu groß und sollte ruhen. Das haben wir alle respektiert, und so soll es auch bleiben.

Er selber ging mit seiner  Behinderung so um, dass er außerhalb seines Hauses nirgendwo aß, wo man seine Behinderung hätte sehen können. Es war ihm unangenehm, denn es hätte ja passieren können, dass ihm vielleicht einmal etwas von der Gabel heruntergefallen wäre. Selbst ein Brot konnte er sich nicht mit Butter und einem Aufstrich zubereiten. Mein Vater hatte mir als Kleinkind auch nie helfen können, meinen Schnürsenkel neu zu binden. Er hatte mir nie einen Knopf an Bluse oder Kleid zumachen können. Er selbst war ja ständig auf Hilfe angewiesen, insbesondere von meiner Mutter. Vor ihr habe ich noch heute Hochachtung, wie sie dieses Leben gemeistert hat: immer an seiner Seite, sich selbst immer zurücknehmend. Es wurde ihr nie zu viel, es war für sie das Selbstverständlichste der Welt, sich um meinen Vater zu kümmern.

Jutta Loose
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1 Gedanke zu „Leben mit einem Kriegsversehrten“

  1. Liebe Frau Loose
    Bewegend zu lesen, wie Ihr Vater sein Leben mit allen Herausforderungen angenommen und das Beste daraus gemacht hat.

    Würde, Akzeptanz, Beharrlichkeit und die Liebe der Familie scheinen die Pfeiler dieses erfüllten Lebens gewesen zu sein.

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