Leben mit einem Kriegsversehrten

Meine Betroffenheit

Eine Begebenheit in diesem Zusammenhang prägte sich bei mir intensiv ein. Ich war etwa 4 Jahre alt, als mir schlagartig klar wurde, wie hilflos mein Vater war, als mein Schnürsenkel an einem Schuh aufging und er ihn nicht wieder zubinden konnte. Ein Freund meines Vaters stand ebenfalls ratlos daneben, er konnte sich nicht zu mir herunterbeugen, da er bis zur Hüfte hoch eine Beinprothese trug, welche nicht im Knie beweglich war. Wir befanden uns gerade auf einem Friedhof. Mein Vater lief durch die Gräberreihen und sprach eine ältere Dame an, die mir meinen Schuhsenkel wieder zugebunden hatte. – Von diesem Tag an beschäftigte ich mich unermüdlich mit dem Binden von Schnürsenkeln, bis ich es endlich gänzlich beherrschte.

Als Kind beobachtete ich natürlich meinen Vater im Alltag sehr genau. Wir heizten ja mit Kohle, und zum Anzünden brauchte man Holz. Das musste man kaufen oder sammeln und dann zerhacken. Das Holz hackte natürlich mein Vater. Oft beobachtete ich ihn, wie er mit der einen Hand und mit seinem Stumpf versuchte, das Holzstück festzuhalten, was nicht immer gelang. Heimlich, wenn er auf der Arbeit war, ging ich in den Stall und hackte dort die vorhandenen Holzklötze richtig schön zu Feuerholz. Mir machte es Spaß, und ich war froh, dass er sich nicht mehr verletzen konnte. – Er tat dann natürlich – wie Eltern das so tun – immer sehr erstaunt, wo das ganze Feuerholz wohl herkam.

Einschränkungen

Im Laufe der Zeit zogen auch allerlei Hilfsmittel vom Versorgungsamt bei uns ein, die ihn bei der Verrichtung des Alltags etwas entlasten sollten. Trotz dieser Hilfsmittel rutschte das Messer beim Brotschmieren manchmal ab, und er verletzte sich. Eine Prothese wollte er nicht tragen, weil dafür sein Arm weiter oben hätte amputiert werden müssen. Er trug auch nie den Arm frei, sondern immer mit einem sogenannten Strümpfchen über dem Stumpf. 

So bekam er auch einmal auf Antrag einen Spezialhandschuh aus weichem Leder, der im Winter mit Fell gefüttert war, für seine linke Hand. Wenn er ihn alleine anzog, schlüpfte er zuerst mit den Fingern zur Hälfte in den Handschuh hinein, rieb ihn danach mit der Hand am Mantel mehrmals nach vorne, um die Hand richtig zu positionieren, und zog den Handschuh mit Zuhilfenahme der Zähne über die Finger.

Wenn wir Gäste hatten, aß mein Vater nie mit uns zusammen. Selbst wenn die Gäste schon morgens kamen und erst nachts gingen, saß er zwar dabei, gegessen aber hatte er mit uns nie. Er sagte dann immer: „Ich habe keinen Hunger.“ Das konnte ich als Kind nur sehr schwer akzeptieren. Wenn er den Raum verließ, in dem alle zusammen aßen, richtete meine Mutter oder ich ihm etwas auf einem Teller an, brachten es ihm in das Zimmer, in welches er gegangen war, und er aß dort.

Meine Eltern fuhren nie in den Urlaub, weil mein Vater eben nirgendwo aß. Ferienwohnungen gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Dafür ermöglichten meine Eltern mir, dass ich mit einer Schulfreundin mitfahren konnte. Die Eltern meiner Freundin kannten unsere Situation und fragten einige Male, ob meine Eltern damit einverstanden wären, wenn ich mitführe. So kam ich dann auch in den Genuss von Urlaub und konnte einige herrliche Gegenden von Deutschland kennenlernen. 

Einige Monate nach meiner Heirat 1973 führte ich ein ernstes Gespräch mit meinem Vater. Ich gab ihm zu verstehen, dass, wenn er bei Einladungen unsererseits, aus Scham wegen seiner Behinderung, nichts essen und er weiterhin keine Urlaubsreisen mit meiner Mutter unternehmen würde, ich ihn nicht mehr zu Hause besuchen würde. Dies wäre etwas gewesen, was er nicht verkraftet hätte. Ich habe mein Ziel mit dieser „Androhung“ erreicht. Getan hätte ich es mit Sicherheit nicht. 

Wohl auf Grund dessen trat ab 1974 eine große Wende ein, und meine Eltern buchten einen 4-wöchigen Urlaub im Harz. Von dieser Zeit an waren sie zwei Mal im Jahr für jeweils 4 Wochen auf Reisen. Mein Vater fing an, in Restaurants zu essen, selbst große Gesellschaften stellten zu unserer Freude kein Problem mehr dar.

Trotz der erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen meisterte mein Vater sein Leben und arbeitete als Beamter bei der Post bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung – aus gesundheitlichen Gründen.

Jutta Loose
Letzte Artikel von Jutta Loose (Alle anzeigen)

1 Gedanke zu „Leben mit einem Kriegsversehrten“

  1. Liebe Frau Loose
    Bewegend zu lesen, wie Ihr Vater sein Leben mit allen Herausforderungen angenommen und das Beste daraus gemacht hat.

    Würde, Akzeptanz, Beharrlichkeit und die Liebe der Familie scheinen die Pfeiler dieses erfüllten Lebens gewesen zu sein.

    Antworten

Schreiben Sie einen Kommentar