Falsche Verdächtigungen

Im Winter 1948 ließ ich mich als Lehrer auf eigenen Wunsch von der Grundschule Bad Langensalza an die Dorfschule Freienbessingen versetzen. Die Prüfung zum Lehramts-Anwärter hatte ich gerade hinter mir. Die Versorgung mit Lebensmitteln war in Bad Langensalza war nämlich katastrophal, und ich versprach mir auf dem Lande eine bessere.

Freienbessingen liegt etwa 22 km von Bad Langensalza entfernt. Öffentliche Verkehrsmittel dorthin gab es seinerzeit nicht. Man konnte ledig mit der Kleinbahn die halbe Strecke bis Kirchheilingen fahren – vorausgesetzt es waren genügend Kohlen vorhanden – und dann die restlichen ca. 10 km zu Fuß zurücklegen.

Als ich mich auf den Weg zu meiner neuen Wirkungsstelle machte, hatte es einige Tage zuvor heftig geschneit, und ich bahnte mir ab der Endstation den Weg durch den knöcheltiefen Schnee. Ich war völlig erschöpft, als mich der neue Kollege Otto Schielein in seiner behaglich geheizten Stube empfing. Als Erstes flößte er mir einen 40%-igen Nordhäuser ein. Dieser Schnaps war schon in Friedenszeiten, vor allem im Ruhrgebiet bekannt und beliebt.

Bei seiner Vorstellung erfuhr ich, dass er im bayrischen Teil der Rhön geboren war und bei den Fallschirmjägern verwundet wurde. Weltanschaulich lagen wir auf einer Wellenlänge und waren beide innerlich davon überzeugt, die aus der erlebten NS-Zeit gezogenen Lehren in der noch jungen Republik, die sich deutsch und demokratisch nannte,  im positiven Sinne verwerten zu können.

Der Schul-Dienst wurde nicht nur streng nach Vorschrift gemacht, sondern darüberhinaus die Freizeit zu einem großen Teil dem Schulbetrieb und  der Öffentlichkeitsarbeit geopfert. Unsere  inzwischen zur Zentralschule entwickelte  Dorfschule  gehörte zu den besten im Landkreis und wurde auch vom Volksbildungsministerium als vorbildlich bezeichnet.

Meine Erwartungen hinsichtlich der Verpflegung erfüllten sich vollauf. Wie  auf den Dörfern üblich, wurde der Lehrer abwechselnd von einer bäuerlichen Familie beköstigt. In der letzten Zeit fand meine kulinarische  Betreuung auf dem Hof des früheren 0rtsbauernführers Stadermann statt. Der Betrieb verfügte über etwa 70 ha Ackerland, hatte zudem 20 Kühe, 2 Pferde, 40 Schweine und 10 Ziegen. Hier kamen nur köstliche Dinge auf den Tisch. Eine winzige Ausnahme bestand in der mitunter an Sonntagen servierten Ziegensuppe und dem Ziegenbraten, mit, gelinde ausgedrückt, reichlich strengem Geschmack. 

Ansonsten empfanden wir das Leben auf dem Land erträglicher als in der  Stadt, leider nur solange, bis das sogenannte Volksgut einen Kulturleiter namens Schersinsky zugewiesen bekam, der als ehemaliger SS-Oberschaarführer, in der Sowjetunion politisch umfunktioniert, für frischen Wind sorgen sollte. Dazu gehörte auch das Scharfmachen der etwas laschen SED-Mitglieder und das Entlarven von nicht linientreuen Volksgenossen.

Da die Wurzeln meines Kollegen Otto und die meinen jenseits der Staatsgrenze zu finden waren, erregte dies bei dem 100 %-igen SED-Genossen Neid und Misstrauen, zumal wir außer unserer FDJ-Uniform mitunter auch westliche Kleidung aus Jeans- und Cordstoffen trugen, sowie  – man höre und staune – Chesterfield oder Collie rauchten. In Versammlungen stellten wir zudem mitunter kritische Fragen und konnten manche Handlungen der Regierung nicht verstehen, wa<s wir auch zum Ausdruck brachten.

Fazit: Bei den alteingesessenen Bauern waren wir gut angesehen, nicht unbedingt bei den Parteifreunden.

Kommen wir nun zu den dramatischen Ereignissen, die Anfang Oktober 1950 kurz vor den Wahlen zur Volkskammer stattfanden: Wie  gewohnt waren im ganzen Ort Wahlplakate angebracht, worauf die SED-Spitzenfunktionäre bzw. Mitglieder der Nationalen Front um Stimmen warben. Gegenüber unserer Schule war ein großes Plakat mit Wilhelm Pieck angebracht. Sein Blick richtete sich wohlwollend auf Schüler und uns westlich angehauchten Schulmeistern. Wir fühlten uns nicht recht wohl dabei, denn die DDR war inzwischen von ihrer einstigen demokratischen Linie total abgewichen und der abgebildete „Wilhelm“ dabei nicht unbeteiligt gewesen. 

Eines  Morgens klopfte der Bürgermeister heftig an die Klassentürtür – das Bürgermeisteramt befand sich ja ebenfalls im Schulgebäude. „Hei Kanter!“ – so wurden damals die Lehrer auch genannt –, „ Guck mal aus dem Fenster. Da haben welche das Plakat abgerissen.“ Es bot sich für jeden überzeugten SED- Genossen ein schrecklicher Anblick. Der Kopf unseres wahrscheinlich künftigen Präsidenten hing halbiert und der Rest in Fetzen herunter.

Der Kulturleiter war bereits von der Sekretärin telefonisch über die „außergewöhnlichen Vorkommnisse“ informiert worden. In Begleitung des SED Vorsitzenden, der einen  großen  Leimtopf  und ein neuen Plakat mit sich führte, erreichte er sichtlich nervös den Tatort. Er schaute uns irgendwie vorwurfsvoll an, als er meinte, dass dies kein Dummejungenstreich gewesen sein konnte und die Täter sich dabei bestimmt etwas gedacht hätten. Es fielen Worte wie „Folgen haben“, „Meldung machen“.

Nachdem unter fachkundiger Leitung ein neues Plakat angeklebt wurde, löste sich schließlich die Runde mit gemischten Gefühlen auf. Alle waren tief beeindruckt, nur Kollege Otto und ich konnten uns eines kaum erkennbaren Schmunzelns nicht erwehren. Während  wir uns auf dem Rückweg mit dem Bürgermeister unterhielten, kam die nicht ganz unerwartete Frage:  „Jetzt mal ganz ehrlich und unter unter uns gesagt: Habt ihr was mit der Sache zu tun? Schersinsky hat nämlich ganz nebenbei gemeint, die Übeltäter könnten wohlweislich im Bereich Schule zu suchen seien.“  – „Natürlich nicht!“, lautete einhellig unsere Antwort.

An der hohen Mauer der Schmiede sorgte nun ein neues Plakat für Aufmerksamkeit. Dieses Mal war es Walter Ulbrich, der mit seinem Konterfei  zu Frieden, Fortschritt und zum Wählen der Nationalen Front aufforderte. Ungewollt schweiften in den darauf folgenden Tagen meine Blicke während des Unterrichts öfters hin zur anderen Straßenseite, in der Hoffnung, den wahren „ Attentäter“ vielleicht auf frischer Tat zu ertappen, denn den Verbrecher soll es ja häufig zum Tatort zurückziehen. 

Und siehe da! Ich traute meinen Augen nicht, als drei alte Bekannte vom Hofe meines Gastgebers Stadermann meckernd den Bürgersteig  entlang trabten und vor der Plakatwand Halt machten. Sie stellten sich auf die Hinterbeine, reckten den Hals bis an den oberen Rand des neuen Plakates und zerrten  es langsam in schmalen langen Streifen nach unten. Die beiden anderen fackelten nicht lange und langten ebenfalls kräftig zu. Das 0bjekt ihrer Begierde war jedoch nicht das Plakat, sondern der Leim gewesen, der nicht richtig klebte,  aber gut zu schmecken schien. Sie leckten eifrig an der Wandklebefläche oder kauten genüsslich das  Papier. 

Die Schüler drängten sich derweil an die Fenster, um möglichst viel von dem Spektakel  mitzubekommen. „Das sind doch  e  u e r e  Viecher“, feixte ein Schüler den Sohn Manfred meiner Gastgeberfamilie Stadermann an. Der erwiderte gelassen: “Na und!?“ Vorsichtshalber  verständigte ich das in Paterre befindliche Bürgermeisteramt. Aber hier herrsche bereits eine teils entrüstete, teils belustigende Stimmung. 

Jedenfalls waren die im Geheimen gehegten Verdächtigungen gegen uns auf breiter Basis enkräftet und der Bereich ‚Schule‘ rehabilitiert. Die Wand wurde nicht neu plakatiert, das Schloss an Stadermanns Tor aber erneuert,  was nun für ausbuxfreudige Wiederkäuer unüberwindbar geworden war.

Schade, dass es in der DDR nicht mehr freilaufende Ziegen vom Schlage Stadermann gegeben hatte, vielleicht wäre das Wahlergebnis damals ohne Plakate anders und nicht fast 100%-ig mit „Ja“ ausgefallen.

Letzte Artikel von Horst Heckmann (Alle anzeigen)

Schreiben Sie einen Kommentar