Bitte nicht füttern!

Es war einmal im Westpark eine Familie. Zuerst waren da nur Herr und Frau Nilgans. Sie fühlten sich im Westpark auf dem See, umgeben von vielen wunderschönen großen Bäumen und einer großen Wiese, sehr wohl. Im Frühjahr hatten sie den Wunsch nach Kindern.

Es musste eine Bleibe für Frau Nilgans gefunden werden, in der sie ohne Ruhestörung das Werden ihrer Kinder erwarten konnte. Sehr schnell fanden sie das Richtige. In einem großen Kastanienbaum am Ufer des Sees war in etwa drei Meter Höhe im dicken Stamm ein großes Astloch. Vor längerer Zeit hatte man den Ast abgesägt, weil er die Radfahrer am vorbeiführenden Weg störte. Der äußere Rand des Loches war noch festes Holz, im Inneren hatte sich eine große Mulde gebildet. Die konnte mit weichem Moos und etwa Heu gepolstert werden, so dass Frau Nilgans die Geburt ihrer Kinder unbeschadet erwarten konnte. Herr Nilgans stand unter dem Baum wie ein Wächter. Auch brachte er seiner Frau etwas zum Essen, weil sie die auszubrütenden Eier unter sich wärmte. Und dann geschah es eines Tages: Die Eier platzten, und heraus kamen vier weißbraun gesprenkelte Nilgansküken. Wie die Eltern ihre Kinder aus dem Nest hinunter auf den Rasen befördert haben, ist der Biografin nicht bekannt. Wer es weiß, möge es mir berichten.

Die Nilgansfamilie wurde viel bestaunt; die vier Kleinen waren niedliche kleine Geschöpfe. So klein sie waren, schwimmen konnten sie schon bald; Mama vorneweg, Papa als Schlusslicht. Und mit ihren kleinen Schnäbeln machten sie es den Eltern nach. Sie pickten zwischen Gras nach Nahrung; und auch auf den Wegen gab es offenbar einiges aufzupicken. So ging es eine Weile. Als ich eines Sonntags Familienbesuch von auswärts bekam, erzählte ich die Nilgansgeschichte. Man wurde neugierig. Ein Spaziergang zum Westpark war angesagt. Voller Erwartung machten wir uns auf den Weg. Angekommen gingen wir am See entlang und fanden die Nilgans-Eltern mit – ja mit nur einem Küken. Erschreckt darüber rief ich: „Es waren doch vier!“  Ein Herr in der Nähe hatte es gehört, kam zu uns und sagte: „Bei einer Fütterung haben die Kanadischen Gänse die drei Kleinen getötet.“ „Und wie?“ fragte ich. Das wusste er nicht. Wir rätselten; aber konnten es uns nicht erklären. Betrübt gingen wir nach Hause.

Nach kurzer Zeit ging ich mal wieder zum Westpark. Als ich gerade angekommen war und am Weg zwischen dem See und der großen Wiese war, flogen plötzlich viele Enten auf die Wiese, am Schluss ein großes, schwarzes Kanadische Gänsepaar und schließlich erschienen auch die Nilgänse mit ihrem jetzt einzigen Kleinen. Ich sah einen Mann etwas weiter weg, der mit großem Schwung Brotbrocken zwischen die gefiederte Schar warf. Mein Interesse war auf das kleine Nilgänslein gerichtet. Die Eltern waren nicht dicht dabei. Das Kleine rannte hin und her, um etwas von den Bröckchen zu erhaschen. Da näherte sich eine der schwarzen Kanadischen Gänse dem Kleinen; und ich witterte Gefahr.

Da sich diese Szene am Rand abspielte, konnte ich mich nähern. Tatsächlich hatte die Kanadische Gans es auf das kleine Nilgänslein abgesehen. Mit ihrem etwas gesenktem langen schwarzen Hals und geöffnetem Schnabel ging sie auf das Kleine los. Da schlug ich mit meinem Stock heftig gegen den schwarzen Hals. Das tat seine Wirkung. Die Kanadische Gans stob davon. Nilgänslein war gerettet. Jetzt wurde mir klar, wie die Geschwister ums Leben kamen. Heute, nach einem halben Jahr, ist das Gerettete fast so groß wie seine Mutter.

Dorothée Hugot