Ein Leben für die Schneiderkunst
Sie fädelt den Faden ein – ganz ohne Brille. Kaum zu glauben, Frau „Röschen“ – wie die Kundinnen sie liebevoll nennen – ist gerade stolze 95 Jahre alt geworden. Sie hat noch immer ihr kleines Änderungsatelier auf der Aachener Straße in Köln-Braunsfeld. Seit mehr als 60 Jahren kommen ihre Kunden zu ihr.
Schon 1958 fertigte und änderte die Schneiderin Kleidung, zunächst als Angestellte und ab 1976 im eigenen Atelier und Modesalon mit dem schönen Namen „Modesalon Rösgen – Das Fachgeschäft mit der persönlichen Note für die anspruchsvolle Dame“.
Annelie Rösgen erinnert sich „Ich hatte Mode für ältere Leute, von meinem Alter bis hundert Jahre, denn, wenn die alten Leute einen Laden haben, auf den sie sich verlassen können, gehen die für einen durchs Feuer. Die jungen Leute aber können in jede Boutique gehen, die finden immer was.“
Annelie Rösgen hat sich in all den Jahren einen treuen Kundenstamm erworben. Weit mehr als 100 000 Röcke, Blusen und Jacken hat sie in all der Zeit geändert – rekordverdächtig! Ihr Atelier war noch nie wegen Krankheit geschlossen, denn Kranksein kennt die fitte Witwe nicht. Sie war bis auf ganz wenige Ausnahmen noch nie beim Arzt. „Ich nehme auch keine Medikamente“, strahlt Frau Rösgen, „Ihre Medikamente sind Ihre Kunden“, hat einmal ein Arzt zu ihr gesagt.
In ihrer Zeit als Angestellte im Modegeschäft Stangenberg in Braunsfeld (dort befindet sich heute die „Braunsfelder Reinigung“) arbeitete sie für so prominente Kunden wie den Musiker Kurt Edelhagen und seine Frau. Promis ganz anderer Art, wie Zarah Leander, Marika Rökk oder Carl Raddatz hat sie in den 50er Jahren im benachbarten Braunsfelder Kino LIBRA auf der Aachener Straße, neben der Gastwirtschaft MARIENBILD, gesehen. „Da gab es doch noch kein Fernsehen, da ging man eben ins Kino“, erzählt Annelie Rösgen. Besonders gut kann sie sich an einen Kinobesuch im LIBRA im Mai 1952 erinnern. „Ich saß im Kino mit dickem Bauch und am nächsten Tag kam meine Tochter Dagmar zur Welt. Es war der 22. Mai 1952.“
Gerne erinnert sie sich an diese Zeiten, als ihre beiden Kinder geboren wurden. Ihr Rezept für gute Gesundheit: „Arbeit und keine Langeweile“. Sie lacht und sagt, sie komme gebürtig aus dem Westerwald. Da gäbe es den Spruch „Nimm dir eine Frau aus dem Westerwald. Sechs Monate ist dort Winter, sechs Monate ist es kalt, aber das Fleisch hält sich.“
Für viele ihrer Kundinnen ist sie „das Röschen“. So erinnert sich auch Wibke von Bonin, die renommierte Kunsthistorikerin aus Braunsfeld, an sie. „Ihr Schaufenster war immer so dekoriert – für ältere Damen, Kleider und Jacken und alles ganz hübsch. Wenn man in ihr Atelier ging, dann strahlte sie einem entgegen und ich habe sie von Anfang an sehr gemocht. Als ich sie kennenlernte, war sie in ihren Siebzigern. Sie saß hinten und rappelte an ihrer Maschine, aber das Wichtigste war vorne ihr Gesprächseckchen. Da saß meistens, wenn man reinkam, irgend eine ältere Dame und die beiden hatten sich dann was zu erzählen. Eigentlich wollte sie ja hinten arbeiten, aber vorne war halt jemand zum Schwatzen und das war auch schön. Ich gehörte dann auch zu denen, die schwatzten. Und sie hat in ganz fabelhafter Weise alle meine Änderungswünsche erfüllt. Schließlich zog sie mit ihrem Atelier nach oben und machte ihr Lädchen unten zu.“
Annelie Rösgen hat das Herz auf dem rechten Fleck. Bei so machen ihrer Kunden aus dem benachbarten Altenheim CLARENBACHSTIFT hat sie bei der Bezahlung schon mal ein Auge zugedrückt. „Wenn die keine hohe Rente oder nur ein Taschengeld hatten, habe ich für die Änderung oft nichts genommen oder nur ein paar Euro. Und die haben sich dann zu meinem Geburtstag immer mit Blümchen bedankt“, freut sie sich. Und so mancher sagte, kommen Sie doch zu uns ins CLARENBACHSTIFT, aber Annelie Rösgen will auch nach dem Tod ihres Mannes vor fast zwanzig Jahren noch nicht ins Altenheim, sie kommt in ihrer kleinen Wohnung, die gleichzeitig ihre Änderungsstube ist, immer noch gut allein zurecht.
Dort habe ich Annelie Rösgen an ihrem 95. Geburtstag, am 6. Juni 2018, besucht. Sie überraschte mich mit sieben selbst gebackenen Kuchen und Torten. Ich entschied mich für den leckeren Erdbeerkuchen mit viel Sahne. Lächelnd erzählt sie mir, dass sie für ihre Kunden auch an Karneval immer noch Berliner backt, und das schon seit Jahren. „Von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch“, lacht sie verschmitzt. Ich darf auch Fotos von ihr machen, denn Frau Rösgen, das Braunsfelder „Röschen“, war anlässlich ihres Ehrentages natürlich beim Friseur.
Dann fragt sie mich, ob ich heute schon Fernsehen geschaut hätte. Sie hätte den ganzen Tag den Start des Astronauten Alexander Gerst ins All verfolgt. Und fügt hinzu. “An Bord sind Amerikaner, Deutsche und Russen. Ganz friedlich. Warum ist das auf der Erde nicht möglich?“
Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Außer Annelie Rösgen weiterhin viel Gesundheit und zufriedene Kunden zu wünschen. Und vielleicht bekommt sie ja noch das Bundesverdienstkreuz – verdient hätte sie es allemal.
Von Ingrid Westbrock