Datum 10. März 2022
Liebe Lesefreunde,
die Sonne scheint, Krokusse und Narzissen blühen, hier und da noch ein vereinzeltes Schneeglöckchen, Mandelbäumchen stehen kurz vorm Farbenrausch – und das alles trotz Corona und Krieg in der Ukraine!
Wie gut, dass die Natur ihren eigenen Gesetzen folgt – man stelle sich vor, auch hier würden größenwahnsinnige Machthaber die Regeln bestimmen.
So wie bei uns Politiker ernsthaft fordern, sämtliche Corona-Schutzbestimmungen dauerhaft zu streichen und selbstverständlich auf jegliche Impfpflichten zu verzichten – „Pflicht“, was für ein ekelhafter Begriff!
Anja und ich sind sehr froh, dass wir dank Booster unsere Covid-Infektion zu Hause auskurieren können und wieder auf dem Weg der Besserung sind. Ihre lieben Grüße und guten Wünsche helfen uns hierbei, vielen Dank!
Ich bin jetzt auch in der Lage, mich in die Lektüre zu vertiefen, die wir uns vorgenommen haben. Frau Kühnen hatte uns vier Werke vorgeschlagen. Ich bin beeindruckt von dieser Liste, die auch nach eigenem Stöbern im Internet genau die Autor*innen nennt, die in der deutschsprachigen Kritik auf die größte positive Resonanz gestoßen sind.
Ich habe die Bücher bei Herrn Weinbrenner für die Meerbecker Bibliothek bestellt.
Hier sind sie:
- Wynnytschuk, Jurij (* 1952): Im Schatten der Mohnblüte (Tango Smerti): dtsch. 2014, Haymon Verlag, 456 S. 22,90/12,90 Euro
Ein Ukrainer, ein Deutscher, ein Pole, ein Jude. Die Heimat der vier jungen Freunde, das multikulturelle Lemberg der 1930er, ist ein bunter Ort voller bezaubernd kurioser Figuren – von der Großmutter, die leidenschaftlich als professionelles Klageweib arbeitet, bis hin zur uralten Bibliothekarin, die nicht sterben kann, bevor ihr Verlobter nicht aus den mystischen Tiefen der Regalreihen zurückgekehrt ist. Mit der Ankunft der Sowjets und später der Nazis wandelt sich die Stadt in einen düsteren Ort. Inmitten der Kriegswirren hinterlässt eine schicksalhafte Melodie Spuren, die bis in die Gegenwart führen: der Todestango. Auf geheimnisvolle Weise bringt er die Erinnerung an ein früheres Leben zurück und macht so möglich, dass geliebte Menschen sich wiederfinden können – dort, wo der Mohn tanzt.
‘Im Schatten der Mohnblüte’ ist eine bewegende Geschichte über Freundschaft, Ideale und Rückgrat im Angesicht größter Grausamkeit, die zeigt, dass Schatten stets auch Licht bedingt.
- Zhadan, Serhij (1974) : Internat; dtsch 2018, Suhrkamp 300 S., 22 Euro
In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt.
Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn „geparkt“ hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.
Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.
- Sabuschko, Oksana (1960): Museum der vergessenen Geheimnisse; 2014 Fischer 768 S., 29/15 Euro
Die aufregendste Schriftstellerin der Ukraine Oksana Sabuschko rechnet schonungslos und mutig mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ihres Landes ab: Daryna ist Fernsehproduzentin in Kiew. Eines Tages entdeckt sie ein Foto der Partisanin Helzja, Mitglied der Ukrainischen Aufstandsarmee in den 40er Jahren, und beschließt, ihrer Geschichte nachzuspüren. Als sie sich im Zuge ihrer Recherche in Helzjas Enkel Adrian verliebt, steckt sie bereits mitten im Geschehen.
- Maljartsschuk, Tanja (1983): Blauwal der Erinnerung; 2019, Kiepenheuer & Witsch, 288 S., 19 Euro, antiq.
Ein Roman über den vergessenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj, dessen Leben auf kunstvolle Weise mit dem der Ich-Erzählerin verknüpft wird: Sie sucht in dessen Vergangenheit nach Spuren, um besser mit ihrer eigenen Gegenwart zurechtzukommen.
Eine Frau leidet, nach unglücklichen Beziehungen aus der Bahn geworfen, unter Panikattacken und verlässt monatelang die Wohnung nicht. Sie findet Orientierung und Halt in einer historischen Figur, die für die Geschichte der Ukraine eine große Rolle spielte: Wjatscheslaw Lypynskyj. Der leidenschaftliche Geschichtsphilosoph und Politiker entstammte einer polnischen Adelsfamilie, die in der Westukraine lebte. Schon früh identifizierte er sich mit der Ukraine und bestand auf der ukrainischen Form seines Namens. Nach dem Studium befasste er sich politisch und historisch mit dem zwischen Polen und Russland zerrissenen Land und forderte wie besessen seine staatliche Unabhängigkeit. Ein Kampf, der ihn durch verschiedene Länder führte und persönliche Opfer kostete.
Ähnlich kränklich wie diese historische Figur und – wie er – auf der Suche nach Zugehörigkeit, folgt die Erzählerin diesem stolzen, kompromisslosen, hypochondrischen Mann, um durch die Erinnerung der sowjetischen Entwurzelung zu trotzen.
Zum Schluss noch eine weitere Empfehlung, die insbes. die Jugend ansprechen dürfte:
Deresch, Ljubko (1984): Kult (2002, dtsch. 2005, Suhrkamp, 259 S., 12 Euro, antiq.)
Jurko Banzai, Biologiestudent aus Lemberg, kommt als Referendar an ein College in der kleinen Karpatenstadt Midni Buky. Lebensgefährliche Experimente mit selbstgezüchteten Sporenarten liegen hinter ihm, die Neugier auf die Nachtseite der Realität ist geblieben. In seiner Dachwohnung, die er aus Geldmangel mit den Orchesternoten von Wagners Fliegendem Holländer tapezieren mußte, raucht er Wasserpfeife, hört Peter Hammill und übt sich in der Kunst des luziden Träumens, die ihn in die Bibliothek von Babel entführt.
»Es ist ein Buch aus unseren Zeiten und auch ein seltsames Gebilde, dieses Buch, weil es so widersprüchlich ist, so selbstsicher, so verloren.« DIE ZEIT
Ljubko Deresch gilt neben Jury Andruchowytsch und Serhij Zhadan als einer der prominentesten Vertreter der postsowjetischen ukrainischen Literatur. In seinen Romanen Kult und Die Anbetung der Eidechse beschreibt er das Leben in der fiktiven Karpatenstadt Midni Buky, die Kämpfe zwischen rivalisierenden Jugendgangs, Drogenexzesse und das Vordringen der westlichen Popkultur. Deresch greift also die Themen der anspruchsvollen »Popliteratur« auf, für die in Deutschland Autoren wie Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister stehen. Allerdings kombiniert er diese Motive mit Elementen des phantastischen Romans. Viele Rezensenten sehen in ihm daher einen literarischen Erben von H.P. Lovecraft, Ambrose Bierce oder Edgar Allen Poe.. wollen
Genug Lesestoff für Montag, den 21. März 2022, an dem wir uns um 18:00 Uhr in der Werkstatt wieder treffen wollen.
Herzliche Grüße
Ihr Wolfram Reutlinger