GANZ GROSSES KINO – Das LIBRA in BRAUNSFELD

Von: Ingrid Westbrock

„In die Filmbranche kommt dieses Kind nie, die Filmbranche ist schmutzig“, prophezeite Heidi Weigand-Diederichs Vater, ein leitender Filmkaufmann bei der Ufa. Doch es sollte alles ganz anders kommen. Plötzlich war Heidi Weigand-Diederichs, die zunächst Fremdsprachen studiert hatte, die Frau an der Kasse und manchmal auch Filmvorführerin im legendären LIBRA, den Lichtspielen Braunsfeld.

Das LIBRA in den 60er Jahren zwischen den Gaststätten “Zur Müllerin” und dem “Marienbild”

Was war passiert? Heidi Weigand-Diederichs hatte durch einen großen Zufall den Mann ihres Lebens kennengelernt. Ein überaus charmanter, wenn auch wesentlich älterer, gut aussehender Mann, wie Heidi Weigand-Diederichs immer noch schwärmt. Sie sitzt mir im alteingesessenen italienischen Eiscafé „Tre Cime“ gegenüber und lässt im Gespräch die alten Zeiten wieder aufleben. Ihre Mutter sei zunächst gegen die Verbindung gewesen, erinnert sie sich, doch dann gab sie sich geschlagen. Der Kölner Filmtheater-Besitzer Ernst-Fred Weigand-Diederichs und Heidi wurden ein Paar und heirateten schnell. Eine ideale Verbindung, denn Heidi Weigand-Diederichs brachte als Disponentin im Ufa-Filmverleih in Düsseldorf viel Erfahrung mit. Das war 1962. Für die junge Frau waren es aufregende, wenn auch durch ihren Vater vertraute, Zeiten. Und der deutsche Film und das Kino erlebten seit Mitte der 50er Jahre ihre Glanzzeit. Die Sissi-Filme mit Romy Schneider und Karl-Heinz Böhm begeisterten das Publikum.

Heidi Weigand-Diederichs 2018
Heidi Weigand-Diederichs heute

Auch als Heidi Weigand-Diederichs die alten Ufa-Schinken mit Marika Rökk, Zarah Leander und vielen, vielen anderen Ufa-Stars ins Programm nahm, kamen die Braunsfelder in Scharen. Ganz anders als bei dem Skandal-Film „Das Schweigen“ von Ingmar Bergmann aus dem Jahr 1964. Das Wettern des Braunsfelder Pfarrers Querbach der katholischen Kirchengemeinde St. Joseph von der Kanzel gegen den „freizügigen“ Streifen schien gewirkt zu haben. An der Kasse war gähnende Leere, erinnert sich Heidi und schmunzelt. Denn die Braunsfelder wussten mit dem „Problem“ umzugehen. Nachdem der Vorfilm bereits angelaufen war und im Kinosaal Dunkelheit herrschte, bildete sich an der Kasse eine lange Schlange. Die Braunsfelder wollten den Film, von dem alle Welt redete, eben auch sehen.

Für die Braunsfelder – und auch viele Kinofreunde aus Müngersdorf und Junkersdorf – war das LIBRA schon damals eine Institution. Eröffnet wurde es im Oktober 1937. In diesen Jahren entstanden in ganz Köln zahlreiche Stadtteilkinos. Nach einer Bombennacht 1944 standen vom LIBRA nur noch die Grundmauern. 1949 wurde es dann feierlich wiedereröffnet durch den Kölner Polizeipräsidenten Winkler.

„Die Eröffnung des LIBRA-Theaters auf der Aachener Straße 559 würdigte der ‚Stadt-Anzeiger‘ im Juli 1949: ‚Das Vestibül war voll von Blumen und angehefteten Glückwunschkarten (…). Joachim Limann, der bekannte Kölner Operettenspielleiter und -tenor, hielt die Eröffnungsrede’. Lokalprominenz und gehobene Kultur, beides sollte den Geltungsanspruch des Lichtspieltheaters untermauern“, so Rita Kegelmann und Gerhild Krebs in Bruno Fischli (Hrsg.) „Vom Sehen im Dunkeln – Kinogeschichten einer Stadt“ (vergriffen).

Der Werbespruch aus den 50er Jahren, “Mach dir ein paar schöne Stunden – geh ins Kino“, wurde hier schon gelebt. „Während der Filmvorführer an kälteren Tagen nebenbei Koks in die Heizungsanlage schaufelte, um den riesigen Saal einigermaßen warm zu bekommen, erfreuten sich immer mehr Braunsfelder an einem Gang ins Kino… Jede Woche kam der Ufa-Maler Schmitz vom Ring nach Braunsfeld und pinselte in einem extra für ihn bereitgehaltenen Kabäuschen das etwa fünf Meter lange Plakat für den Film“, so schreibt Axel Heyer in Harald Peikerts schönem Büchlein „Braunsfeld – Ein Puzzle in 23 Teilen“ (vergriffen).

Wenn auch die neuen Filme zuerst in den großen Kinos in der Innenstadt zu sehen waren, so konnte das LIBRA doch mit einer anderen Attraktivität glänzen: in den 50er Jahren verfügte es über die größte Cinemascope-Kinoleinwand in Köln und hatte über 1200 Plätze, 400 auf dem Balkon und 800 im Parkett.

Viel größer übrigens als das ehemalige Lindenthaler Filmtheater „Corso“ an der Dürener Straße. Und so kamen auch manche Lindenthaler immer wieder gerne nach Braunsfeld ins LIBRA. Wie auch der Filmfreund Günter Franke, der hier Mitte der 50er Jahre in der Kindervorstellung sonntags um elf Uhr die „Dick und Doof“ – oder „Pat und Patachon“ – Filme über die Leinwand flimmern gesehen hatte.

Dass zu dieser Zeit noch in Kinos geraucht werden durfte, ist keine Besonderheit, wohl aber die Tatsache, dass der Kinobesucher im LIBRA seinen vierbeinigen Freund mitbringen durfte.

„Ja, Hunde waren bei uns erlaubt. Wenn einer anfing zu knurren, bellte die ganze Bande. Und wenn im Film gebellt wurde, war natürlich der Teufel los“, lacht Heidi Weigand-Diederichs.

Die Kinobesitzerin ist vielen noch in lebendiger Erinnerung. Der Braunsfelder Fotograf und Journalist Friedrich Ledermann – bekannt durch seine zahlreichen Foto- und Videodokumentationen – schwärmt noch heute von „der tollen Frau an der Kasse. Die junge, attraktive Frau ist mir sofort aufgefallen“, schmunzelt er.

Porträtfoto Heidi                             Weigand-Diederichs 1976
Heidi Weigand-Diederichs 1976

Ebenso unvergesslich für ihn war der Filmklassiker „Der Hauptmann von Köpenick“ aus dem Jahr 1956. Der legendäre Heinz Rühmann spielte seine Paraderolle zusammen mit Martin Held, Hannelore Schroth, Walter Giller und Wolfgang Neuss. Ein Publikumshit, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und wenige Monate vor Schließung des LIBRA 1968 sah Friedrich Ledermann hier den britischen Kinostreifen „Blow Up“ in der Regie von Michelangelo Antonioni. Heute noch berühmt als Filmportät der Londoner Beat-Generation. Wie so viele Braunsfelder bedauert er das Verschwinden des LIBRA mit seiner ganz besonderen Atmosphäre, dem riesigen Kinosaal und dem schweren, silbergrauen Samtvorhang.

Ein Kinobesuch war damals ein gesellschaftliches Ereignis. Und nach dem Film ging man in die umliegenden Cafés – wie in das benachbarte Café Robertz – oder auf ein Kölsch in die Gaststätten, wie die Schenke „Zur Müllerin“ oder das Brauhaus „Marienbild“, von denen heute nur noch das „Marienbild“ übrig geblieben ist. Das Leben war einfach geselliger, meint Heidi Weigand-Diederichs, die seit dieser Zeit so manche Veränderung im Viertel erlebt hat.

Dann kam der Fernsehapparat in die Wohnstuben und die Zeiten wurden schwieriger. Die Kölner Innenstadt erwies sich immer mehr als Magnet, und obwohl das LIBRA die Bezirkserstaufführungsrechte hatte, musste das Ehepaar Weigand-Diederichs monatlich zwei bis dreitausend Mark reinbuttern, um den Kinobetrieb mit den steigenden Filmverleihgebühren am Laufen zu halten. „Natürlich waren auch die anderen Kinos von dieser Entwicklung betroffen, und so waren gegen Ende des Jahrzehnts fast alle Kölner Vorstadtkinos – das „Astoria“ in Bickendorf, die „Sülzburg-Lichtspiele”, das „Corso“ und viele mehr – von der Bildfläche verschwunden, zweckentfremdet als Supermarkt, Lagerhalle oder Gaststätte, wie beispielsweise das „Corso“, das zu einem Teil das Restaurant „Bremer“ geworden ist“. (Quelle: Axel Heyer, in Harald Peikert „Braunsfeld – Ein Puzzle in 23 Teilen“). Umso schöner, dass das „Weisshaus Kino“ an der Luxemburger Straße, 1953 eröffnet als „Theater am Weisshaus“ mit „großzügig gestaltetem Treppenaufgang zum Balkon und Kronleuchter im Foyer“ , immer noch sein Publikum findet (nachzulesen in: Marion Kranen und Irene Schoor „Kino in Köln – Von Wanderkinos, Lichtspieltheatern und Filmpalästen“).

Im LIBRA fällt im September 1968 der letzte Vorhang: Das Kino war nicht mehr rentabel und Heidi Weigand-Diederichs Mann war inzwischen verstorben. Also leider kein Happy End, aber viele Braunsfelder erinnern sich noch gerne an „ihr“ Kino. So der Hausmeister der katholischen Kirchengemeinde St. Joseph, Horst Richter, der mit seiner Schulklasse Anfang der 50er Jahre hier den Heimatfilm „Der Wildschütz vom Schliersee“ gesehen hatte. Oder auch die Schneiderin Annelie Rösgen, zu der Frau Weigand-Diederichs auch heute noch ihre Kleidungsstücke zum Ändern gibt. Denn Annelie Rösgen – „das Braunsfelder Röschen“ hat mit ihren 95 Jahren immer noch ein Änderungsatelier auf der Aachener Straße (nachzulesen in meinem Artikel „Annelie Rösgen – Das Braunsfelder Röschen“, veröffentlicht unter https://unser-quartier.de/braunsfeld/2018/06/annelie-roesgen-das-braunsfelder-roeschen/). „Da gab es doch noch kein Fernsehen, da ging man eben ins Kino“, erzählte mir Annelie Rösgen bei einem Besuch in ihrem Änderungsatelier. Besonders gut kann sie sich an einen Kinoabend im LIBRA im Mai 1952 erinnern: „Ich saß im Kino mit dickem Bauch und am nächsten Tag kam meine Tochter Dagmar zur Welt“. Und natürlich erinnert sie sich auch noch an Filmgrößen wie Zarah Leander, Marika Rökk oder Carl Raddatz, die Filmidole des Kinos der 50er Jahre.

Auch Heidi Weigand-Diederichs denkt ein wenig wehmütig an diese Zeit zurück. Jeden Tag bis auf Heiligabend hatte sie in ihrem LIBRA verbracht. „Das Ende kam mit dem Film ‚Die Stunde, wenn Dracula kommt‘. Dann wurde das komplette Theater entkernt“, erzählt sie. Aus dem Kino wurde ein Supermarkt (erst Kaiser’s und heute ein Drogeriediscounter). So erging es vielen Stadtteilkinos in dieser Zeit. Beim LIBRA lockte der Horrorfilm mit der Vampir-Story noch einmal tausende Braunsfelder in das Lichtspielhaus – dann war der letzte Vorhang gefallen.

Nachtbild Aachenerstraße
Nachtaufnahme Aachener Straße mit LIBRA 1968

 

Copyright Fotos:
Heidi Weigand-Diederichs (historische Aufnahmen LIBRA, Porträtfoto Heidi Weigand-Diederichs 1976)
Friedrich Ledermann (Nachtaufnahme Aachener Straße mit LIBRA 1968)
Ingrid Westbrock (aktuelles Foto Heidi Weigand-Diederichs 2018)