Datum, 6. Juni 2024
Liebe Lesefreunde,
die Bilder, die uns in diesen Tagen aus Süddeutschland erreichen, gehen uns nahe – auch wenn sie ein paar hundert Kilometer entfernt sind: Überflutete Dörfer und Städte, Menschen, die verzweifelt ihre Angehörigen, Tiere und Habseligkeiten aus den Wassermassen retten, erschöpfte Helfer, frustrierte Anwohner, die schon wieder von den Fluten heimgesucht wurden und nur noch resigniert seufzen: … „so schlimm war es noch nie!“
Sie wie auch die erstmals Betroffenen halten jedoch fast immer fest an Haus und Hof, bleiben in ihrem Dorf, in ihrer Stadt. Sie bleiben in ihrer Heimat, verlangen und setzen sich dafür ein, dass diese vor solchen Katastrophen besser geschützt werde. Sie lassen sich nicht entwurzeln.
Damit sind wir bei den zentralen Begriffen, zu denen die Diskussion uns beim letzten Treffen führte.
Heimat – Entwurzelung – zweite Heimat?
Wir hatten und haben uns beschäftigt mit den durch die Nationalsozialisten vertriebenen Deutschen im Exil, mit Deutschland als Exil für aus anderen Ländern Vertriebene und Geflüchtete. Wir haben die „Heimat“ als Kern dieser Prozesse, Lebens- und Geschichtsverläufe identifiziert. Ihrem Verlust, ihrem Bewahren im fremden Land, dem haben wir in den vorgestellten Büchern nachgespürt.
Christel Michel erzählte aus dem Roman Nachtschatten von Elina Penner, wie mennonitische Russlanddeutsche ihre Traditionen im Familienverband in Ostwestfalen weiterleben. Erika Spandick verwies auf Necla Keleks Bericht Die fremde Braut. Es geht darin um „Import-Bräute“: Türkische junge Frauen, die von türkischen Männern der zweiten und dritten in Deutschland lebenden Generation geheiratet werden und hier streng unter sich nach muslimischen Traditionen leben. „Wir können doch auch hier leben, ohne mit den anderen etwas zu tun zu haben. Wir haben unsere eigenen Vorstellungen. Wir haben hier doch alles, wir brauchen die Deutschen nicht.“
Hier wird die eigene Heimat total in ein fremdes Land importiert, die traditionellen Riten, Regeln und Gebräuche manchmal sogar noch strenger als im Mutterland befolgt. Es entstehen „Import-Heimaten“ als abgeschlossene Zonen.
Das kann dazu führen, dass die ein“heim“ische Bevölkerung plötzlich ein Stück der eigenen Heimat verliert. Eine Straße, ein Viertel wird zum Feindesland. So geht es Gabi Niephaus mit der Zwickauer Straße. Und die Furcht vor dem Verlust der Heimat im eigenen Land schürt eine Angst, die sich bis zur Vertreibung der hier eine neue Heimat gefundenen Habenden (oder der Importeure ihrer alten Heimat) steigern kann.
Genug des Begriffs-Jonglierens. Der Blick ins Heimatkaleidoskop zeigt uns eine Vielfalt an bunten Farben. Freuen wir uns daran!
Vielleicht gelingt es besser, sich von ihrer Komplexität nicht verwirren zu lassen, wenn wir sie selbst nachzeichnen, sie selbst mit dem Stift und/oder mit Worten zu Papier bringen. So, wie es Nora Krug im New Yorker Exil in der Graphic Memoir Heimat, Ein deutsches Familenalbum (Penguin-Verlag 2018) geschafft hat.
Mit dieser Empfehlung von Doris Petermeier lade ich Euch ein zu unserem nächsten Lesekreis
am Montag, dem 24. Juni 2024 um 18:00 Uhr
in der Werkstatt Meerbeck, Zwickauer Straße 16,
unserer „Leseheimat“!
Ich wünsche uns noch viele schöne Junitage und grüße alle sehr herzlich
Euer Wolfram Reutlinger