Immer wieder hört und liest man, dass durch die Individualisierung unserer Gesellschaft die Menschen zu Egoisten werden und immer weniger hilfsbereit sind. Stimmt das überhaupt?
Seit vielen Jahren sind die Menschen in den Demokratien der westlichen Welt vom Zwang einer Staatsreligion befreit (Laizismus) und ihre Verfassungen garantieren Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit und Handlungsfreiheit. Diese totale Freiheit endet nur da, wo sie die Freiheit der Anderen einschränkt. Dies wird im Wesentlichen durch Gesetze geregelt, die lediglich zum Grundgesetz kompatibel sein müssen. Die Gewaltenteilung für Gesetzgebung (Parlament), Rechtsprechung (Justiz) und Exekutive (Polizei) garantiert im Prinzip, dass diese Freiheit nicht durch die Mächtigen untergraben wird. Diese freien Menschen können nun glauben was sie wollen und leben wie sie wollen. Sie sind also nicht mehr fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt.
Diese Autonomie des Menschen erfordert jetzt aber im Gegenzug. dass sich Jeder selbst über seinen Glauben, seine Weltanschauung und seinen Lebensstil klar werden muss. Individualisierung ist eine nicht unerhebliche Leistung. Vor Jahrhunderten war es für alle klar, dass es Gott gibt und wie man mit ihm zu leben hat (Religion). Auch war unumstößlich klar, wie die Welt und die Gesellschaft funktioneren und wie man sich in Ihr zu benehmen hat, bis hin zur Kleiderordnung. Heute müssen die modernen Menschen selbst zu der Erkenntnis gelangen, ob es einen Gott gibt und in welcher Religion sie mit ihm leben wollen. Kleiderordnung gibt es nicht mehr und man kann anziehen, was man möchte. Man muss sich also sehr intensiv um sich selbst kümmern, um der zu werden, der man sein möchte. Selbstverwirklichung ist hier das entscheidende Stichwort.
Nun meinen einige, dass dies automatisch dazu führt, dass wir alle hauptsächlich auf unseren eigenen Vorteil bedacht sind, also zu Egoisten werden. Dem steht aber gegenüber, dass wir Menschen uns aus einer jahrmillionen andauernden Evolution heraus zu sozialen Wesen entwickelt haben. Wir brauchen einander: Kinder die Liebe der Eltern, die Erwachsenen die Anerkennung der Anderen. Für die meisten Menschen gilt sogar, dass sie „ihr tägliches Quantum an Bedeutung für andere“ brauchen (Prof Klaus Dörner). Dazu Kommt, dass die Evolution uns Menschen mit Einfühlungsvermögen (Empathie) ausgestattet hat damit unser Zusammenleben bestmöglich funktioniert. Deshalb ist der Mensch Meister darin, aus dem Gesichtsausdruck auf die Gefühle im Gegenüber zu schließen und die Evolution hat unser Gehirn hierfür sogar mit Spiegelneuronen ausgestattet (die auch bei anderen Primaten gefunden wurden).
Die Kooperationsforschung hat zudem gezeigt, dass es verschiedene Formen der Kooperation gibt, die alle mehr oder weniger stark fest verankert in unseren Genen stecken: innerfamiliäre Hilfe, Hilfe auf Gegenseitigkeit, selbstlose Hilfe und Heldentum. Dass sich Familienmitglieder gegenseitig helfen, sogar wenn sie sich nicht besonders mögen, kennt jeder („Blut ist dicker als Wasser“). Zwischen Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, ist gegenseitige Hilfe wohl am häufigsten: Hifst Du mir, so helfe ich dir.
Das gilt besonders, wenn man sich kennt, z. B. bei Nachbarschaftshilfe oder unter Arbeitskollegen. Aber auch selbstlose Hilfe kommt häufig vor, z. B. bei den meisten ehrenamtlichen Tätigkeiten. Aber auch bei ganz banalen täglichen Anlässen, wenn man z. B. auf der Straße nach dem Weg gefragt wird. Wer sich selbstlos für die ganze Gemeinschaft einsetzt, gilt als Held, wenn er sich dabei selbst Gefahren aussetzt.
Dass die Hilfsbereitschaft in uns Menschen fest verankert ist, wird auch im Freiwilligensurvey der Bundesregierung deutlich, der seit 1999 alle 5 Jahre veröffentlicht wird, denn daraus geht hervor, dass die Zahl der Freiwilligen und Ehrenamtlichen in diese 15 Jahren nicht gesunken, sondern sogar leicht gestiegen ist. Wir können uns also aufgrund der wissenschaftlichen und empirischen Erkenntnisse darauf verlassen, dass den Menschen die Hilfsbereitschaft trotz der Individualisierung nicht abhanden kommt. Die jahrmillionen andauernde Evolution hat uns nachhaltig zu diesen sozialen Wesen gemacht. Durch falsche Erziehung kann es allerdings durchaus dazu kommen, dass, wenn die Menschen um Hilfe gebeten werden fragen: „und was bekomme ich dafür?“ – aber Bildung ist ein ganz anderes Thema.