Nachbarschaftshilfe und Evolution

In Wikipedia findet sich zu Nachbarschaftshilfe:

„Gegenseitige, unter Nachbarn gewährte Form der Hilfe und Unterstützung, bei der zumeist auf ein Entgelt in Form einer Geldzahlung verzichtet und stattdessen Gegenleistungen in ähnlicher Form erbracht werden. Nachbarschaftshilfe ist üblicherweise ein gewohnheitsmäßiges und wenig formalisiertes Instrument sozialer Gemeinschaften zur Bewältigung von individuellen oder gemeinschaftlichen Bedürfnissen, Notlagen und Krisen“.

Diese Definition findet meine volle Zustimmung. In meinem einbändigen Brockhaus von 2003 findet sich unter Nachbarschaftshilfe dagegen kein Eintrag.

Kooperation symbolisch
3dman_eu / Pixabay

Solche sozialen Gemeinschaften, von denen hier die Rede ist, findet man typischerweise noch in den Dörfern. In den Städten bilden sich solche nicht ganz so natürlich. Aber überall, wo Menschen nahe beieinander wohnen, können sie aber auch dort entstehen. Voraussetzung ist, dass sich diese Menschen persönlich kennen, sich grüßen, wenn sie sich begegnen und gelegentlich miteinander ins Gespräch kommen. Wenn dann noch gemeinsame Aktionen hinzukommen, wie z.B. gegenseitige Besuche, ein Straßenfest oder Ausflug, dann spricht von lebendigen Nachbarschaften und es wird auch automatisch darüber gesprochen, wo Hilfe gebraucht wird und wie sie von Nachbarn erbracht wird.

Weil das leider nicht immer automatisch entsteht, gibt es heute im Internet Plattformen, die dies erleichtern, und zwar auch über den unmittelbaren Kontakt hinaus, wie z.B. www.nebenan.de. So kann sich eine lebendige Nachbarschaft entwickeln, die sich sogar über einen ganzen Stadtteil erstreckt. Ideal ist es, wenn es in dieser Nachbarschaft auch Stätten der Begegnung gibt, wie Kneipen, Restaurants, Märkte und Kirchengemeinden.

Nun wird gelegentlich gesagt, dass sich die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten stark individualisiert hat, was sicherlich stimmt. Daraus wird dann oft abgeleitet, dass die Menschen egoistischer geworden sind und deshalb die gegenseitige Hilfsbereitschaft nachlässt. Und das stimmt eben nicht. Im Freiwilligensurvey der Bundesregierung von 2014 wird ganz im Gegenteil eine Zunahme der unentgeltlichen Hilfsbereitschaft (freiwilliges Engagement) über die letzten Jahrzehnte dokumentiert, auch im sozialen Bereich.

Der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass die Evolution den Menschen zu einem sozialen Lebewesen entwickelt hat und Kooperationsbereitschaft in unterschiedlichen Formen beim Menschen genetisch verankert ist (*), natürlich in Konkurrenz zu anderen Programmen, wie z. B. Wettbewerb oder Besitzstreben. Neben der interfamiliären Hilfsbereitschaft (Blut ist dicker als Wasser) und dem Heldentum (Sterben fürs Vaterland) sind die für die Nachbarschaftshilfe relevanten Formen die direkte Reziprozität (gegenseitige Hilfe, Geben und Nehmen) und die indirekte Reziprozität (selbstlose Hilfe). Die Nachbarschaftshilfe der Zeitvorsorge basiert auf Hilfetausch, also direkter Reziprozität und gehört somit zu den ganz normalen Hilfeleistungen.

(*) Martin A. Nowak: „Warum sind wir Hilfsbereit?“, Spektrum der Wissenschaft Nov. 2012, S.77ff und Michael Tomasello: „Warum wir kooperieren“, Suhrkamp Verlag, Sep 2010, ISBN: 978-3-51826036-4

Karl-Heinz Kock

Schreiben Sie einen Kommentar