Flucht aus der Tschechoslowakei

Foto: Pablo Nicolás Taibi Cicare

Bei unserer Flucht aus der Tschechoslowakei, Anfang April 1945, befanden wir uns eines Tages auf der Etappe von Waldmünchen nach Kamen in der Oberpfalz. Plötzlich sahen wir die ersten Toten. Männer im blau- und weißgestreiften Anzügen im Straßengraben. Wir glaubten, es handelt sich um Gefängnisinsassen, die von Tieffliegern beschossen wurden. Es waren aber nicht einige wenige, sondern im Laufe des Weges waren es Hunderte. Auf einer Anhöhe angekommen, sahen wir aus einiger Entfernung eine endlose Kolonne dieser bedauernswerten Menschen. Wir erreichten einen Ort Namens Neukirchen-Balbini. Wir übernachteten im Saal eines Gasthofes. Müde und hungrig, wir hatten nichts zu essen, schliefen auf Stroh und wurden morgens durch großen Lärm und Kettengerassel geweckt. Die Amerikaner waren da. Der Krieg war zu Ende. Wir waren sehr geschockt, hatten wir noch immer an den Endsieg durch irgendwelche Wunderwaffen geglaubt. 

Doch plötzlich waren auch tausende ehemalige KZ-Insassen des KZ-Lagers Flossenbürg in der Oberpfalz frei. Diese Menschen waren noch viel erbärmlicher dran als wir, litten sie doch an den Folgen von Hunger und Krankheiten. Viele nutzten ihre plötzliche Freiheit und plünderten bei Bauern alles Essbare, ohne daran zu denken, was sie ihrem ausgemergelten Körper zumuteten. Sie aßen Fleisch und Fett, um anschließend unter unsäglichen Qualen zu sterben. Die Bauern im Dorf mussten viele von ihnen in der Umgebung bergen. 250 Särge ohne Deckel wurden im Dorf angefertigt, und alle Flüchtlinge, auch wir, schaufelten zwei Massengräber in den Maßen 8 x 8, vier Meter tief am östlichen Dorfausgang. Bei der Bestattung der Leichen wurden alle Särge von Bewohnern des Dorfes von einem Ende des Dorfe zum anderen Ende getragen. Drei Jahre später hatte man alle Leichen umgebettet  und in Flossenbürg auf einem dort errichteten Ehrenfriedhof beigesetzt.

In der Nähe der Stadt Weil in der Oberpfalz befand sich ein amerikanisches Lager für deutsche Kriegsgefangene. Viele deutsche Soldaten wurden von dort aus entlassen und machten sich auf den Weg in ihre Heimat. Sie wurden von umherziehenden Gruppen von KZ-Häftlingen aufgegriffen und um ihre letzte Habe beraubt. War ein ehemaliger SS-Mann dabei, den sie an dem Blutgruppenzeichen unter dem rechten Arm erkannten, so wurde der an dem nächsten Baum aufgehängt und ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen Mann der kämpfenden Truppe oder um einen ehemaligen Bewacher handelte.

Nachdem wir bei einem Bauern einen Unterschlupf für mich und meinen Freund Manfred für das nächste halbe Jahr gefunden hatten, stellten wir fest, dass im Haus des Bauern zwei polnische KZ-Häftlinge wohnten.  Gleichzeitig boten sie Schutz vor den plündernden KZ-Häftlingen. Diese beiden erzählten uns, was sie in ihrer Zeit in Flossenbürg erlebt haben. Wir waren entsetzt und konnten es kaum glauben. Nach dem Kriegs habe ich noch mehr darüber erfahren.

In Flossenbürg wurde hauptsächlich in Steinbrüchen gearbeitet. Eine gewisse Tradition hatten Steinbrüche schon immer, da es sich um Basalt-Steinbrüche handelte. Im Jahr 1939 wurde das KZ-Lager Flossenbürg errichtet, um Basaltquader für die nach dem Krieg zu errichtenden monumentalen Bauten der Hauptstadt des „Großdeutschen Reiches“ zu erzeugen. Hitler und sein Architekt Albert Speer hatten die Absicht, unter anderem ein Gebäude mit einer Kuppel zu errichten, das wie der Petersdom aussehen sollte – eine Halle mit einem Fassungsvermögen von etwa 70 bis 80.000 Menschen! Berlin hieße nicht mehr Berlin, sondern Germania. Für alle diese Vorhaben wurden Basaltblöcke aus Flossenbürg benötigt. Ab 1943 wurden Häftlinge zur Kriegsproduktion eingesetzt, hauptsächlich für die Firma Messerschmidt. Zwischen 1939 und 1945 waren etwa 100.000 Häftlinge aus über 30 Nationen in Flossenbürg inhaftiert, von denen mindestens 30.000 gestorben sind. Nach dem 20. Juli 1944, dem Attentat auf Adolf Hitler, wurden am 9. April 1945 sieben Beteiligte des missglückten Attentats in Flossenbürg hingerichtet, u.a. auch Dietrich Bonnhoefer und Wilhelm Canaris. Eine Woche später trieben SS-Wachmannschaften über 10.000 Häftlinge des KZ-Lagers Flossenbürg auf einen sogenannten Todesmarsch, um sie nicht in die Hände der Alliierten fallen zu lassen. Rund 7.000 Menschen kamen bei diesem Marsch um.

Ich muss dazu sagen, wir waren ja auf der Flucht, wollten nach Hause. Wir waren selbst ganz erbärmlich dran. Um ehrlich zu sein, wir haben die Toten gesehen, aber das hat uns damals kaum berührt. Es ist wirklich so. Ich habe kein Mitleid gespürt, das heißt wir waren 60 Jungs im Alter von 12/13 Jahren. Es war halt so. Also, wir haben die Gräber geschaufelt und haben uns halt so dabei amüsiert, es hört sich komisch an, aber es war so. Aber anschließend, beim Bauern, wo die Polen wohnten und alles so erzählten, was passiert war: Es war Tod durch Arbeit. Mit Erschießen usw. war da gar nicht, die wurden ausgenutzt bis zum Tod. Man hat versucht damals, 2.000 dieser Häftlinge als Steinmetze auszubilden. Diese Steinbrüche gab es weit, weit vor dem Krieg schon, wurden gewerblich genutzt. Man hat sie damals ausgenutzt, indem man die Häftlinge reingebracht hat, die da umsonst gearbeitet haben. Die SS hatte natürlich ihren Vorteil davon, die hat sich bezahlen lassen, ganz klar. Die aktiv waren, um diese Leute umzubringen durch Arbeit. Was ja auch größtenteils gelungen ist. Also, ich meine, mit einer Wassersuppe am Tag 12 Stunden arbeiten, das hält keiner durch.

In Buchenwald war es ja das gleiche. Ich kenne die Geschichte, habe ich auch gelesen, in Auschwitz war ich persönlich vor 3 Jahren, aber das ist ja nicht zu vergleichen, wie es damals war. Ein Teil dieser Baracke steht da noch, Krematorium ist gesprengt. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, ich kann mich erinnern … eine lange Baracke in Auschwitz von mindestens 60 m Länge. Da sind in der Länge so Betonplatten und mit Löchern. 40/50 Löcher, da haben die ihre Notdurft verrichten müssen, alle in einer Reihe. Also, das habe ich selber gesehen. Aber speziell über die Sache, die ich selbst erlebt habe, das war in Flossenbürg.

Alte und Junge, alle, wir waren alle damals – wir haben am Dorfausgang, es gab ein Bagger, Spaten und Hacke und der gleichen – es ist Tatsache – Ich kann das noch nachvollziehen. Es gibt Leute im Dorf in meinem Alter, die das selber erlebt haben. Leben noch, ich war vor einiger Zeit mal da.

Bei der SS hatten alle ihre Blutgruppenkennzeichnung unter dem rechten Arm. Ich habe das selber gesehen, als sie aufgehängt waren, da hingen sie tagelang.

Die sind verbrannt worden … und wie sich die Bauern gewehrt haben!

SS war die Elite. Und am Anfang des Krieges wurde jemand eingestellt, der musste mindestens 180 cm groß sein, blond und dergleichen. Diese ganzen … die deutsche Rasse!

Wenn jemand dunkle Haare hat, der hatte überhaupt keine Chance! Am Anfang des Krieges hat man ihn gar nicht genommen, er musste blond sein. Groß 180. Heroisch.

Ich muss noch sagen, dieser ganze Zug war von SS begleitet, von einem Tag auf den anderen sind die alle stiften gegangen. Die haben die ganzen 10.000 plötzlich alleine gelassen. Die hatten Angst, und sie sind aufgegriffen worden – zum Teil wieder – obwohl sie sich beim Bauern Bekleidung besorgt haben, ihre SS Bekleidung wollten sie total loswerden,  alles was da so rumlief … und wehe dem, der hat ein Blutgruppenzeichen.

Gut, es war so, Mitte Juli haben die Amerikaner alle wieder eingesammelt, verpackt in ein Sammellager, und dann wurden sie in die Heimatländer abgeschoben. Da wurde es den Amerikanern schon zu viel, was die da für Unheil angerichtet haben. Wobei man sagen muss, das Unheil haben wir selber angerichtet. Das war nur eine Art Rache, das ist klar. Wenn man versteht, was die Leute mitgemacht haben. Unvorstellbar!

Das war der Sinn der Sache. Der Todesmarsch, so nannte man den. Man muss sich mal vorstellen: Die Leute hatten nichts außer ihrer blaugestreiften Jacke und Hose, und teilweise barfuß, im Lager hatten sie Holzpantoffeln. Barfuß! Es war noch April, in der Oberpfalz gab es noch Schneeschauer zu der Zeit. Die 250, die wir in Nordkirchen-Balbini noch beerdigt hatten, war ja nur ein kleiner Teil. Das ging ja noch weiter, die Bauern haben im Umkreis von 2 km die Toten eingesammelt, der nächste Ort, da wieder eingesammelt. Die sind dann alle oben in Flossenbürg oben auf dem Ehrenfriedhof, das gibt es tatsächlich heute noch.

Horst R. war zum Zeitpunkt seiner Flucht nach Hause 12 Jahre alt.

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