Das Kuß-Gedicht
Der Menschheit größter Hochgenuß
ist ohne Zweifel wohl der Kuß.
Er ist beliebt, er macht vergnügt,
ob man ihn gibt, ob man ihn kriegt.
Er kostet nichts, ist unverbindlich
und er vollzieht sich immer mündlich.
Hat man die Absicht, daß man küßt,
so muß man erst mit Macht und List
den Abstand zu verringern trachten
und dann mit Blicken zärtlich schmachten.
Die Blicke werden tief und tiefer,
es nähern sich die Unterkiefer.
man pflegt dann mit geschloß’nen Augen
sich aneinander festzusaugen.
Jedoch nicht nur der Mund allein
braucht eines Kusses Ziel zu sein.
Man küßt die Wange und die Hände
und auch noch and’re Gegenstände,
die ringsherum mit Vorbedacht
sämtlich am Körper angebracht.
Auch wie man küßt, das ist verschieden
Im Norden, Osten, Westen, Süden.
So mit Bedacht und mit Gefühl,
der eine heiß, der and’re kühl.
Der eine haucht, der and’re schmatzt,
als ob ein alter Reifen platzt.
Hingegen wiederum der Keusche
vermeidet jegliche Geräusche.
Der eine kurz, der and’re länger,
den längsten nennt man Dauerbrenner.
Ein Kuß ist, wenn zwei Lippenlappen
in Liebe aufeinanderklappen
und dabei ein Geräusch entsteht,
als wenn die Kuh durch Matsche geht.
Gerrit Engelke
(1890 – 1918), dt. Arbeiterdichter aus Hannover, gefördert von Richard Dehmel, gefallen im Ersten Weltkrieg