Maria Seemann – Besuchs- und Begleitdienst

Der Engel mit den helfenden Händen

 

Maria Seemann

Maria Seemann

Als ich 2001 aus dem bayerischen Ansbach zu meinem Sohn nach Niederaußem gezogen bin, hätte ich nie gedacht, dass ich mich hier so glücklich fühlen würde. Geboren bin ich 1926 in Bad Windsheim, aufgewachsen auf einem großen Bauernhof. Wir waren vier Geschwister, jeder musste mit anpacken. Einen Beruf zu erlernen, davon konnte ich als Mädchen nur träumen. Mit 27 Jahren habe ich geheiratet. Ansbach war völlig ausgebombt, deshalb sind wir erst einmal bei den Eltern meines Mannes unterkommen.

Mein Sohn ist 1953 geboren und es war klar, dass ich zu Hause bleiben und für die Familie da sein würde. Die leiseste Andeutung in Richtung „Mama geht arbeiten“ führte bei ihm zu schärfstem Protest: „Dann werde ich ein Lumperle und komme nie mehr aus der Schule heim“, drohte er mir scherzhaft. Als Landvermesser war mein Mann viel unterwegs, deshalb steckte ich wieder einmal zurück. Aber als mein Sohn aus dem Haus und in der Lehre war, konnte mir endlich meinen großen Wunsch erfüllen. Ich habe an einem Kurs für Helferinnen des Diakonischen Werks teilgenommen und war in der Sozialstation in der Haus- und Familienpflege tätig. Für andere da zu sein und mich zu kümmern, ist mir ein tiefes Bedürfnis und wohl meine Lebensaufgabe. Mein Vater hat immer gesagt: „Nehmt Rücksicht und seid anständig“ – das werde ich nie vergessen.

Für andere da sein

Als mein Mann vor 24 Jahren plötzlich und völlig unerwartet gestorben ist, bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Er ging aus dem Haus und verabschiedete sich mit einem Kuss und einem „heute komme ich früh wieder“. Dann ist er am Tisch einfach so zusammengesackt und seine Kollegen mussten mir die schlimme Nachricht überbringen. Auch wenn der Arzt gesagt hat, dass ich froh sein sollte, dass er einen so schönen Tod gehabt hat, war es anfangs sehr schwer für mich.

Die Arbeit, das Haus und der große Garten gaben mir Trost. Mein Sohn überraschte mich mit seinem Plan, aufzustocken und mich zu sich nach Bergheim zu holen. Ich kam vor dreizehn Jahren in den Rhein-Erft-Kreis mit dem Gedanken, ihm eigentlich abzusagen – aber da war der Dachstuhl schon fertig. Ich habe es nie bereut, auch wenn andere gesagt haben: „Wie kannst Du aus dem schönen Mittelfranken nur dahin ziehen?“ Hier gibt es so schöne Ecken, man muss nur die Augen aufmachen. Und nur zu Hause zu sitzen wäre mir zu langweilig gewesen. „Raus aus dem Bau“ kann ich jedem nur raten, wenn es gesundheitlich geht und man mobil ist. Ich habe den Führerschein und kurze Strecken fahre ich auch noch selbst.

Den Alltag hinter sich lassen

Damals war gerade das Stadtteilforum im Aufbau, da war ich von Anfang mit an dabei. Zum Netzwerkfrühstück treffen wir uns regelmäßig in Bergheim, ich weiß nicht wie viele Kannen Kaffee ich dafür schon in den Baracken gekocht habe. Jetzt steht da ja das Familienzentrum FunTastik. Man trifft immer nette Menschen, tauscht sich aus und hat Spaß miteinander.

Beim Besuchs- und Begleitdienst gehen wir mit Menschen, die allein nicht mehr klar kommen, ehrenamtlich zum Arzt oder zu den Behörden, helfen beim Einkaufen, beim Ausfüllen von Anträgen, gehen mit ihnen spazieren, sind Gesprächspartner oder kommen zu Besuch ins Krankenhaus. Dort ist es manchmal sehr einsam, aber manchmal ist es das auch zu Hause – trotz einer professionellen Pflege. Wir organisieren auch qualifizierte Entlastungs- und Betreuungsangebote für Angehörige und Menschen mit Demenz. Diese Abwechslung ist gut für beide Seiten, man kann mal abschalten und aufleben, neue Kontakte knüpfen und den nicht immer ganz einfachen Alltag hinter sich lassen.

Eine erblindete alte Dame habe ich sieben Jahre lang betreut, bin mit ihr nach Bedburg zum Arzt gefahren. Sie hat mir einen Brief geschrieben, der mir sehr nahe gegangen ist: „Es ist schwer, Du hast niemanden zum Reden und niemanden zum Fragen – die Helfenden Hände geben dir Trost und machen Dir Mut“. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Unser Kontakt ist leider abgebrochen, nachdem sie weiter weg ins Altenheim und später zu ihrem Sohn gezogen ist.

Zeit zum Zuhören

Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die die Situation eines alten Menschen erheblich verbessern. Es macht etwas aus, ob ein Bett am Fenster steht und man hinaus schauen kann, wie man miteinander spricht. Der Ton macht die Musik, ich finde es schade, wie schroff manchmal miteinander umgegangen wird. Keine Zeit, keine Liebe – dabei ist es so wichtig, zuzuhören, füreinander da zu sein, mal die Hand des anderen zu nehmen. Mein Sohn sagt immer: „Mutti, pass auf Dich auf, lass Dir das nicht zu nah gehen“. Aber ich kann nicht anders – ich muss immer an meine Menschen denken.

Nicht alle haben das Glück, so gut aufgenommen zu werden wie ich hier im Kreis meiner Familie. Ich habe meinen Enkel aufwachsen sehen, er studiert mittlerweile in Aachen und besucht mich manchmal mit seiner Freundin. Er scheint wohl mein Helfergen geerbt zu haben und fragt mich immer, ob er etwas für mich tun kann. Meine Schwiegertochter ist Holländerin und schnappt sich morgens schon mal den Kaffeebecher und den Frühstücksteller und kommt einfach hoch zu mir zum Erzählen.

Jetzt mit meinen 88 Jahren muss ich mich ein bisschen zurück nehmen. Anfang des Jahres hatte ich einen Schlaganfall, aber so lange es geht, will ich weitermachen.
Was man gibt, das kommt auch an einen zurück, das ist meine feste Überzeugung.

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