André Hénocque – Der offene Bücherschrank

Bücher für alle

André Hénocque

Seit wenigen Monaten Rentner hatte ich Zeit zur Verfügung, die ich nach Gutdünken

sinnvoll einsetzen oder verschwenden konnte. Also habe ich beim SeniorTrainerkurs Anfang 2011 mitgemacht. Die Stadt Bergheim setzt dabei auf die Erfahrung und das Wissen älterer Menschen, die ihre vielfältigen Kenntnisse aus Beruf und Privatleben ehrenamtlich weitergeben und ein eigenes Projekt auf die Beine stellen wollen.

Der Abschlusstag kam immer näher. Jeder Teilnehmer sollte ein Projekt vorstellen, das ihm besonders am Herzen lag und das er in Bergheim verwirklichen wollte. Mir wollte aber partout nichts einfallen.

Als französischer Staatsbürger mit über 50-jähriger „Bergheim-Erfahrung“ überlegte ich etwas zu machen, das diesen beiden Tatsachen gerecht wurde. Vielleicht einen Lesekreis auf Französisch? Oder Vorlesen im Krankenhaus? Nein, das alles gab es schon zuhauf.

Aber Bücher überhaupt, Bücher für alle! Das war’s. Ich hatte von der Initiative mit öffentlichen und jederzeit zugänglichen Bücherschränken gehört, die bereits in mehreren Städten aktiv und offenbar sehr erfolgreich war. Mitmenschen zum Lesen anregen. Das ist die Idee, die dahinter steckt. Meine Landsmännin Monique Roden brauchte ich nicht zu überzeugen. Sie war sofort Feuer und Flamme. Wir betreuen bereits den „halboffenen“ Bücherschrank im Stadtteilladen Quadrath-Ichendorf, der allerdings nur zu den Öffnungszeiten zugänglich ist.

Aktion der Stadt Bergheim und RWE

Die Ausbildung als SeniorTrainer kam uns nun zugute: Als Erstes wurde ein Ablaufplan entworfen, ganz nach den erlernten Vorgaben. Wir sprachen mit verschiedenen Entscheidungsträgern, die den Plan hervorragend fanden, jedoch an der Durchführung nicht beteiligt sein wollten – meistens aus Zeitmangel. Wir ließen uns nicht entmutigen und besuchten mehrere Städte, die bereits einen Bücherschrank ihr Eigen nannten und uns Ratschläge erteilen konnten. Zunächst interessierten uns die Standortwahl und ganz besonders die Finanzierung.

Was tun? Da kamen uns der berühmte Zufall und die Bürgermeisterin der Stadt Bergheim zur Hilfe. Diese vermittelte uns einen Kontakt zu RWE Deutschland, die Bücherschränke sponsern und instandhalten. Sie meldete unseren Bedarf an und in kürzester Zeit kam eine konzertierte Aktion gemeinsam mit der Stadtverwaltung und dem Energieversorger zustande.

Schnell war eine geeignete Stelle in der Bergheimer Fußgängerzone an der kleinen Erftbrücke gefunden. Hier kommen jeden Tag viele Leute vorbei und man kann sich auch einmal gemütlich auf die Bank an der Erft setzen und ein Buch anlesen, bevor man es mit nach Hause nimmt.

Mit Hilfe des Architekten Hans Jürgen Greve richteten wir das „Stadtmöbel“ baulich her und übergaben das stabile und wetterfeste Prachtstück am 8. Mai 2012 seiner Bestimmung. „Ein offener Bücherschrank, jederzeit zugänglich, mit Literatur für jedermann – das ist eine tolle Idee“, schwärmte auch Maria Pfordt. „Der Bücherschrank ist ganz klar eine Bereicherung für unsere Stadt. Wir wünschen uns, dass die Bürgerinnen und Bürger regen Gebrauch von diesem Angebot machen.“

Der schwarze, massive Stahlschrank mit robusten Plexiglastüren ist 2,20 Meter hoch und 60 Zentimeter breit und hat damit Platz für ungefähr 250 Bücher. In die Regalfächer können Passanten jederzeit Bücher hineinstellen, die sie selbst nicht mehr benötigen, aber jemand anderem zur Verfügung stellen wollen. So finden der ausgelesene spannende Krimi oder auch das Kochbuch vielleicht bald einen neuen Leser. Wer kein Buch hat, das er in den Schrank stellen kann, der darf natürlich trotzdem eines herausnehmen und lesen. Wir lagern auch gern einmal ein Buch bei uns zu Hause zwischen, sollte der Schrank einmal voll sein.

Schrankpaten sehen nach dem Rechten

Die Erstbefüllung, etwa 250 Bücher, kam größtenteils aus dem Fundus der ersten Schrankpaten: Monique und  mir. Denn mit der Errichtung fing die Arbeit erst richtig an. Zweimal täglich sehen wir nach unserem „Baby”. Mittlerweile stellen die Bergheimer Bürger selbständig Bücher ein, allerdings nicht immer in der von uns vorgesehenen Ordnung und manchmal auch nicht in annehmbaren Zustand.

Nicht Brauchbares wird genauso aussortiert wie Rassistisches oder Schriften religiöser Gruppierungen und politischer Parteien. Wir möchten keine Zensur üben, müssen jedoch auf ein gewisses Niveau achten.

Unser Bücherschrank ist eine Erfolgsgeschichte: Die Ausleihe funktioniert hervorragend. Menschen, die über Jahrzehnte kein Buch angefasst haben, entdecken wieder längst vergessene Lieblingsbücher, ob leichte Muse oder schwierige philosophische Betrachtungen – man kann hier alles finden. Zurzeit stehen beispielsweise Johannes Mario Simmel und Karl May einträchtig neben Agatha Christie, Pinocchio oder dem Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas.

Auch Kinder sind willkommen und können Geschichten entdecken, die schon ihre Eltern verzaubert haben. Hier kann man seiner Phantasie freien Lauf lassen und ins Träumen geraten. Nichts ist vorgefertigt wie im Kino – man muss sich sein Zauberschloss, seine Fee und seine Monster selbst ausdenken.

Ich gehe gern auf meinem täglichen Weg durch die Fußgängerzone zu meinem Schrank und freue mich, wenn ich ihn wieder mit neuen Werken füttern kann.

So bekommt unsere Stadt ein ganz klein wenig mehr Lebensqualität und ich wünsche und hoffe, das viele Gemeinden diesem schönen Beispiel folgen und Lesen wieder eine tägliche Selbstverständlichkeit wird: Das haptische Vergnügen eines gedruckten Buches ist einfach unvergleichlich.

 

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