Das wundersame Roggenkorn …

In einer Schlucht fanden Knaben beim Spielen ein seltsames, holziges Ding, so groß wie eine Kinderfaust und einem Hühnerei ähnlich. In der Mitte seines ovalen Leibes zeigte es einen Einschnitt, so dass man es für ein Korn aus dem sagenhaften Lande des Riesen halten konnte. Der Fund ging von Hand zu Hand. Schließlich erfuhr der Zar von der Sache. Er ließ den Fund kommen und rief seine Forscher herbei, die ihm das Geheimnis des merkwürdigen Dinges enthüllen sollten.

Da saßen nun die hochgelehrten Männer und begutachteten, was da im Saale des Zaren auf der Fensterbank lag. Wie sie noch nachdachten, an ihren Federhaltern kauten und ihre dicken Bücher wälzten, flog ein Vogel auf die Fensterbank und pickte ein winziges Loch in das Ding. Einer der Gelehrten sah es und rief erstaunt: „Ich hab’s, es ist ein Roggenkorn!“

Der Zar war nun neugierig, in welcher Gegend seines Reiches einmal ein solcher Roggen gewachsen sei und ließ einen alten Bauern rufen. Der kam auf Krücken herbeigehumpelt und war fast zahnlos, taub und blind. Der Zar legte ihm das Korn in die Hand und fragte ihn, ob er sich erinnere, dass in seiner Jugendzeit Roggen von dieser Größe gewachsen sei. Der Alte antwortete: „Der Roggen, den ich gedroschen habe, war nie größer als er heute ist.“ Vielleicht aber, so fügte er hinzu, wisse sein Vater von der Sache.

Also ließ der Zar den Vater des Bauern holen, der sich zwar auch auf einen Stock stützte, aber doch noch gut sehen und hören konnte. Auch der Vater des alten Mannes erinnerte sich nicht, in seiner Jugend Roggen von derartiger Größe geerntet zu haben.

Gleichwohl“, sagte er, „waren in meiner Jugend die Körner größer als heute. Und wenn einer in Not geriet, gaben ihm die Nachbarn von seinem Korn ab.“ So groß allerdings wie der Fund aus der Schlucht sei das Korn auch damals nicht gewesen. Vielleicht aber wisse sein Vater mehr von der Sache zu erzählen.

Also ließ der Zar auch den dritten Bauern holen. Der betrat leichten Fußes und ohne Stock den Saal und hatte helle, scharfe Augen. Der Zar fragte ihn ebenfalls, ob in seiner Jugend Korn von derartiger Größe gewachsen sei, und der Alte antwortete: „Solch ein Korn, Väterchen, wie du es in der Hand hast, wurde früher auf allen Feldern unseres Landes geerntet. Jedermann hatte damals Brot in Hülle und Fülle, und Geld kannten wir noch nicht.“

Als der Zar den Bauern fragte, wie es möglich sei, dass sein Enkel so über die Maßen hinfällig und auch sein Sohn vor der Zeit gealtert erscheine, antwortete der Bauer: „Damals, als das Korn noch so groß war wie der Fund in der Schlucht, lebte der Mensch noch nach dem Gebot Gottes. Heute hält er sich an die Gesetze des Neides und des Hasses. Hass und Neid aber sind es, die die Menschen und schließlich auch ihre Kornfelder verkümmern lassen.“

(Leo Tolstoi)

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