“Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt…”

Dieses schöne Goethewort hat mich nachdenklich gemacht.
Haben wir noch ein Auge für die wunderbare Welt und ein Ohr für ihre Klänge? 
Um mich herum Menschen, die vorwiegend ihre Augen auf dem Display ihres Handys haben, auf den Ohren Kopfhörer mit der Lieblingsmusik. Kann man dann noch wirklich sehen und hören? Oder verpasst man dann nicht manche Schönheit, an der man achtlos und unberührt vorbei läuft? Hat man noch ein Ohr für die Klänge der Natur, wie das Morgenkonzert der Vögel oder den Wind in den Bäumen? Es können ganz kleine Dinge sein, die uns berühren, wenn wir sehenden Auges durch die Welt gehen.
Hier fliegt emsig eine Meise mit Nistmaterial in die Hecke, dort sind die ersten Blumen erblüht, im Bus mir gegenüber sitzt ein älteres Paar, dass sich so liebevoll anschaut. 
Es ist ja schon wunderbar genug, dass wir überhaupt Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben. Es ist für uns selbstverständlich und wir denken nicht darüber nach. Aber wenn wir einmal einem Menschen begegnen, der blind oder taub ist, dann kann uns bewusst werden, welch großes Geschenk wir durch Sehenkönnen und Hörenkönnen erhalten haben. Es gibt auch andere Situationen, wo wir berührt werden, z. B. wenn uns die Augen eines kleinen Kindes anlachen oder wenn wir unserem Gegenüber tief in die Augen blicken und dabei einen Hauch seiner Seele erspüren können.
Wir stehen also vor der Herausforderung, die modernen Medien sinnvoll zu nutzen. Diese Vielfalt haben die Menschen vorher nicht gekannt. Erst  vor ca. 70 Jahren kam das Fernsehen in unsere Wohnzimmer, zunächst mit wenigen Programmen. Heute können wir eine unendliche Vielfalt nutzen… aber es ist keine Frage der Programme, ob wir noch sehende Augen und hörende Ohren haben. Es ist eine Sache der Entscheidung, die wir treffen müssen, sowohl vor dem Fernsehapparat, am Computer oder am Handy. Sie können Segen oder Fluch sein, das kann ich ganz alleine entscheiden. Niemand von uns will mehr auf den Nutzen dieser technischen Errungenschaften verzichten… die Kunst dabei ist, trotzdem präsent zu sein im Hier und Jetzt. Oft sehe ich Mütter mit ihren kleinen Kindern und sie haben dauernd das Handy am Ohr… (soll sogar bei Großeltern vorkommen) sie sind dann nicht wirklich da für ihre Kinder.
Ich sehe, dass kleine Kinder ruhig gestellt werden, indem sie schon am Handy oder PC rumspielen dürfen. Später braucht man sich dann nicht zu wundern, wenn sie Internetsüchtig werden.
Wir haben die Freiheit uns gegen die Abstumpfung unserer Sinne zu wehren. Wir müssen uns diese Frage, ob wir mit sehenden Augen und hörenden Ohren durch den Alltag gehen, täglich neu stellen. Wenn wir die Bilder und Klänge nicht nur als Zerstreuung an uns vorbei rauschen lassen, sondern uns auch darin üben achtsam zu sein, ob uns ein Menschengesicht vielleicht Sorgen spiegelt oder ein Ohr haben für eine stille Klage, dann leben wir unser volles Potential aus.
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von Helga-Agnes Cubitzki
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