Winter am Huddletum

Als wir im Herbst 1977 nach Bergheim zogen, war das Leben noch etwas beschaulicher. Die Menschen hetzten nicht von einem Termin zum anderen.
Für Klaaf mit den Nachbarn war immer Zeit.

Wir wohnten an der Bethlehemer Straße, die damals noch nicht im Nichts endete, sondern sich schmal und kurvenreich durch den ebenfalls noch vorhandenen Bethlehemer Wald schlängelte. Huddletum wurde sie von den Bergheimern genannt. Die kleine Straße  mit ihrer leichten Steigung und war die kürzeste Verbindung zwischen Fortuna bzw. Oberaußem und Bergheim.

Sie war aber noch etwas. Für den Fall, dass der Winter die großen und kleinen Bergheimer mit einer einigermaßen geschlossenen Schneedecke erfreute, war sie, so die Überlieferung,  eine überaus beliebte Rodelstrecke. Sei es die Schuld der globalen Erderwärmung, sei es die viel zitierte Schuld der Kraftwerke, wir hatten noch keinen weißen Winter und schon gar kein Rodelvergnügen auf dem Huddletum erlebt.

Dann kam das Jahr 1979.

Das Weihnachtsfest lag, bar jeglicher weißer Pracht, hinter uns und ein fröhliches Sylvester Fest vor uns. Die Nachbarskinder hatten, weil den Rhein- und den Erftländern, der Optimismus selten ausgeht, zum Christfest zwei niegelnagelneue Schlitten bekommen. Still, stumm und ungebraucht harrten sie im Schuppen hinter dem Haus der Dinge, bzw. des Schnees der da kommen sollte.

Und er kam! Am Neujahrsmorgen war er da. Der Jahrhundertwinter!

Kinderjuchzen und –lachen lockten schon am frühen Morgen Groß und Klein hinaus in die flimmernde Pracht. Weiß blendete die Schneedecke, mahnte uns Erwachsene an die lästige Pflicht des Schneeschippens und verführte doch mit kindlichen Erinnerungen. Äußerlich um ihre Sicherheit besorgt, innerlich ein bisschen neidisch folgte unser Blick den Kindern, die ungeachtet, des einen oder anderen Fahrzeugs, das den Huddletum hinauf, bzw. hinabgeschlittert kam, sich den Spaß nicht hatten nehmen lassen wollen.

“ Ach wenn wir doch auch …..“, ein kleiner Gedankenfunke nistet sich in unser Hirn.

Kinder waren wir, wenngleich kindlichen Gemüts, mit 40. wohl kaum und auch unsere Nachbarn konnten beim besten Willen dieses Attribut nicht für sich in Anspruch nehmen –  und doch…… ?

Jeden Abend trafen wir die Nachbarn vorm Haus und jeden Abend versuchten wir gemeinsam die Schneemassen mittels Schippen zu bewältigen.

Jeden Abend saßen wir gemeinsam vor dem Kamin und erzählten von den Schlittenfahrten unserer Kindheit, von den gewollten und ungewollten Stürzen, von den Tiefschneeabenteuern, wenn die Schlitten sich abseits der ausgefahrenen Spurrille verirrten, oder schlicht mangels Steuermanns- oder -fraus Könnerschaft in einer Schneewehe stecken blieben. Immer aufs Neue wurde der Geist der Abende beschworen, in denen wir, eingehüllt in unsere wärmenden Trainingsanzüge, damals noch aus komfortabler wenn auch formloser Baumwolle, Bratäpfel oder andere Köstlichkeiten verspeisten und dabei warmen Kakao als köstlichstes aller Wintergetränke genossen.

Jeden Abend stand unausgesprochen die Frage im Raum: „Sollten wir nicht doch ……?“

Zwei sehnsüchtige Tage hielten wir der Versuchung tapfer stand.

Am Abend es dritten Tages, wir trafen uns wieder zum Schneeschippen und hingen wieder den Kindheitswinterfreuden nach, sagte unser Nachbar plötzlich: „So alt sind wir ja nun auch noch nicht“

Wie von selbst suchten und fanden unsere Augen das gemeinsame Ziel. Benutzt, schmutzig und vom intensiven Gebrauch an den Vortagen schon ein wenig ramponiert, standen sie da. Die Kinderschlitten.

Dem fragenden Blick in die Runde “Es ist doch Dunkel, es sieht ja keiner“ folgte, schon viel forscher, ein: „Los worauf warten wir denn noch?!“ – Natürlich warteten wir nicht! Niemand fragte, ob die Schlitten unser Gewicht aushalten würden oder ob sie beim ersten Aufsitzen schlicht zusammen brächen. Niemand fragte, angesichts der Formel „Masse x Beschleunigung = Geschwindigkeit“ wie lang denn dann unser Bremsweg sein müsse.

Kinderschlitten hinter uns her ziehend strebten wir schwitzend und keuchend dem Huddletum-Gipfel zu. Der schweigende Winterwald breitete seinen Mantel über uns und hüllte uns in gnädige Dunkelheit. In seinem Schutz wagten wir das Abenteuer.

Auf die Schlitten, kräftig abstoßen! So schlingerten wir ins Licht der Straßenlaternen. Mit dem Schweigen des Waldes und dem unsrigen war es vorbei. – Wer ist der Schnellste? Lachender-, juchzenderweise stürzen wir uns abwärts. Wahrscheinlich fragen sich Waldbewohner und Anrainer noch heute welche Verrückten bei nachtschlafender Zeit da den Huddletum unsicher machten.

Nie wieder haben Bratäpfel und Kakao so gut geschmeckt, nie wieder haben wir uns so jung und unbeschwert gefühlt, nie wieder einen Winterabend so ausgelassen voll kindlicher Freude genossen. Es war die schönste Schlittenfahrt an die ich mich erinnern kann.

Zwei Jahre später sind wir weggezogen, das Vergnügen kam nie wieder.

 

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