Ein Mann will nach oben
Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Geboren bin ich vor 77 Jahren in Ruhpolding, Kreis Traunstein, in Oberbayern. Da sind die Gipfel bekanntlich etwas höher als im Rhein-Erft-Kreis. Aber Glessen ist inzwischen meine zweite Heimat geworden, nicht zuletzt wegen der Glessener Höhe.
Auch hier steht auf 204 Metern ein Gipfelkreuz, aufgestellt von der Katholischen Kirche auf der „Kippe“. So wird die Abraumhalde des Braunkohletagebaus Fortuna im Volksmund genannt. Ich habe noch erlebt, wie der künstliche Berg zwischen 1955 und 1970 von den Baggern aufgeschüttet und rekultiviert worden ist.
Meine Frau war der Grund, warum ich ins Rheinland gezogen bin. Sie kommt aus Oberaußem, wo wir anfangs wohnten. Meine Großmutter hat mir eine Almhütte auf dem Hochfelln vererbt, dort hat die Anneliese ihren Urlaub verbracht. Auf der Alm gibt’s koa Sünd, wir haben geheiratet und so bin ich nach Bergheim gekommen.
Ich habe auf dem Bau gearbeitet, das war früher richtig schwer. Wegen einer kaputten Hüfte musste ich meinen Job mit 54 Jahren aufgeben. Die Ärzte sagten mir, ich sei noch zu jung für eine Operation. Da habe ich mich selbst kuriert – mit Akupressur und viel Bewegung. Was sollte ich denn zu Hause sitzen und jammern?
Gipfelbücher am Kreuz
Ich bin schon als Kind viel gewandert und war immer gern in den Bergen unterwegs. Auf meinen Streifzügen habe ich auch das Gipfelkreuz auf der Glessener Höhe entdeckt. Eines Tages habe ich unten am Sockel ein Steinplättchen gefunden, auf dem eine Frau den Tod ihrer Tochter beklagte. Das hat mich sehr berührt. Ich dachte, ein Berg, ein Kreuz – da muss auch unbedingt ein Gipfelbuch hin wie es bei uns zu Hause Brauch ist. Das erste habe ich 2006 installiert. An Maria Himmelfahrt, am 15. August 2006, ist es bei einem ökumenischen Gottesdienst geweiht worden. Insgesamt 50 Gipfelbücher sind es inzwischen, gut verwahrt in einem Kästchen. Iris Redelius hilft mir bei der Gestaltung und unterstützt mich auch sonst bei meinem Herzensprojekt, wo sie kann.
Jeder wandert aus einem anderen Grund zum Gipfelkreuz – um die schöne Aussicht zu genießen oder das Alleinsein, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen oder seine Sorgen für einen Moment zu vergessen, neue Kraft zu schöpfen oder seine Traurigkeit abzulegen. Die Gipfelbücher erzählen von der Freude über die wunderbare Landschaft und das Wetter, vom Stolz und der Erleichterung, den steilen Aufstieg geschafft zu haben, von ihrem Kummer und ihrem Glück. Witziges und Ernstes, Blödsinn und Ärgerliches stehen da. Manche schreiben mehrere Seiten voll und zeichnen wahre Kunstwerke, Blumen, Pferde, den Dackel oder Comics. „Abstand ermöglicht die Dinge von einer anderen Seite zu sehen“, ist da zu lesen. Oder: Je mehr wir an Höhe gewinnen, umso weiter lassen wir unsere Sorgen und Ängste hinter uns.“ Wie wahr.
Wandern im Königsdorfer Wald
Sehr beliebt sind inzwischen auch unsere traditionellen Gipfeltreffen auf der Glessener Höhe. Das erste war vor zehn Jahren am 9. Oktober 2004 – damals waren wir gerade mal zu viert. Wir treffen uns „An der Broicheiche“ hinter dem Feuerwehrgerätehaus und wandern dann gemeinsam eine Stunde hoch bis zum Kreuz. Für ältere oder gehbehinderte Teilnehmer gibt es extra einen Fahrdienst vom Malteser Hilfsdienst, die uns auch mit Speis und Trank versorgen. Lustig war auch ein Gewinnspiel, wobei man raten konnte, was auf dem großen Findling am Kreuz zu erkennen ist. Ein Pferd – ein Totenkopf – ein Gesicht – das bleibt ganz Phantasie überlassen.
Wofür ich aber absolut kein Verständnis habe ist, dass diese kostbaren Schätze immer wieder mutwillig zerstört werden – verbrannt, zerfetzt oder einfach ins Gebüsch geworfen. Ich versuche dann zu retten, was zu retten ist und hebe selbst die verkohlten Reste bei mir zu Hause auf. Inzwischen bin ich ein richtiger Fachmann im Restaurieren. Zwei völlig durchnässte Kladden habe ich gefriergetrocknet, so sind wenigstens noch Teile erhalten geblieben. Ich habe auch schon Anzeige gegen Unbekannt erstattet, aber das ist natürlich ins Leere gelaufen.
Manchmal bekomme ich einen Anruf, dass wieder mal ein Gipfelbuch voll ist. Ich selbst bin zweimal in der Woche oben und schaue nach dem rechten. Es sieht jedes Mal anders aus und immer wieder entdeckt man Neues. Der Panoramablick reicht über die ganze Rheinebene von Leverkusen mit seinen Schornsteinen über Köln mit dem Dom und dem Colonius bis weit ins Bergische Land und dem Siebengebirge. An guten Tagen ist das Hotel auf dem Petersberg mit bloßem Auge zu sehen oder eine Häuserzeile in Remscheid.
Mystische Geschichten
Ich mag auch den Königsdorfer Wald unten am Fuß der Glessener Höhe mit seinen uralten Bäumen, die vielen zum Teil seltenen Tier- und Pflanzenarten Schutz bieten. Er hat so etwas Mystisches. Mehrere verwitterte Wegkreuze künden von seinen geheimnisvollen Geschichten. Die „ehrbare Jungfrau“ Gertrud Dahmen wurde 1819 in einer Quarzgrube verschüttet, als sie Sand holen wollte. Den letzten Förster der Abtei Brauweiler, Peter Vochem, hat ein Stichel tödlich getroffen. Seinen Kollegen Ferdinand Sonnenschein erschoss 1846 ein Wilderer. Der reuige Übeltäter soll sich übrigens selbst gestellt haben, nachdem er bei einem Schützenfest wegen eines blendenden Sonnenstrahls nicht mehr richtig zielen konnte.
Wenn ich die Gipfelbücher durchblättere, bewegt mich das sehr. Ich finde es schön, dass die Leute einen Ort haben, dem sie ihre Gefühle, ihre Hoffnungen und Sorgen anvertrauen. Ich hatte immer schon großes Verständnis für Menschen und engagiere mich auch im sozialen Netzwerk Gemeinsam gegen Einsam. Den Namen habe ich mit Frau Seemann entwickelt, nachdem wir uns nicht mehr „Helfende Hände“ nennen durften.
Heimatpflege und Brauchtum
Ich bin auch im EFI-Team der Stadt Bergheim als ausgebildeter seniorTrainer aktiv. Da trainieren wir keine Senioren, sondern geben unser Wissen und unsere Erfahrungen weiter und fördern ehrenamtliche Projekte rund um Gesundheit, Jugend- und Altenhilfe, Kunst und Kultur, Naturschutz, Heimatpflege und Brauchtum. Wir versuchen, Unterstützung zu mobilisieren und zu helfen, wo wir gebraucht werden. Natürlich setze ich mich auch für den Erhalt der Himmelsleiter ein, einer Treppe aus Eisenbahnbohlen, die auf die Glessener Höhe führt. Direkt in den Himmel, so scheint es. Für unsere Initiative fände ich es schön, dass auch Jüngere mit ins Boot kommen, damit diese schöne Geschichte weitergehen kann.