aus:
Über die Liebe von Khalil Gibran
1
Wenn die Liebe dir winkt, so folge ihr, auch wenn ihre Wege hart und steil sind. Und wenn ihre Schwingen sich unter dich breiten, überlass dich ihnen, auch wenn das Schwert, das in ihrem Gefieder verborgen ist, dich verwunden kann. Und wenn sie zu dir redet, vertraue ihr, mag auch ihre Stimme deine Träume zerstören wie der Nordwind den Garten. Denn wie die Liebe dich krönt, so kreuzigt sie dich. Wie sie dich wachsen lässt, schneidet sie dich zurecht. Und wie sie zu deiner Höhe emporsteigt und dort die zartesten Zweige liebkost, die durch die Sonne zittern, steigt sie hinab zu deinen Wurzeln, um sie in ihrem Festhalten zu erschüttern. Wie Garben von Korn sammelt sie dich um sich. Sie drischt dich, um dich zu entblößen. Sie siebt dich, um dich von der Spreu zu trennen. Sie zermahlt dich bis zur Weiße. Sie knetet dich, bis du geschmeidig bist, und dann übergibt sie dich dem heiligen Feuer, damit du heiliges Brot wirst für das heilige Festmahl Gottes.
2
Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und das Vergnügen in der Liebe suchst, dann ist es besser für dich, deine Nacktheit zu bekleiden und den Dreschboden der Liebe zu verlassen, hinein in die immer gleiche Welt, wo du lachen wirst – aber nicht dein ganzes Lachen, und weinen – aber nicht all deinen Tränen. Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt von nichts als von sich selbst. Liebe besitzt nicht, noch lässt sie sich besitzen. Liebe allein genügt der Liebe.
3
Wenn du liebst, sage nicht: „Gott ist in meinem Herzen“, sondern: „Ich bin im Herzen Gottes“. Und glaube nicht, du könntest den Lauf der Liebe lenken, sondern die Liebe, wenn sie dich würdig findet, lenkt deinen Lauf. Liebe hat keinen anderen Wunsch, als sich selbst zu erfüllen. Wenn du liebst und noch wünschen musst, so seien deine Wünsche: zu schmelzen und einem plätschernden Bach gleich zu werden, der sein Lied der Nacht singt; die Pein allzu vieler Zärtlichkeiten zu kennen; wund zu sein von deinem eigenen Begreifen der Liebe und willig und freudig zu bluten; zur Zeit der Morgenröte zu erwachen mit überströmendem Herzen und zu danken für einen neuen Tag der Liebe; in der Mitte des Tages innezuhalten und den Verzückungen der Liebe nachzusinnen; in der Abenddämmerung dankbar heimzukehren und einzuschlafen mit einem Gebet für deinen Geliebten in deinem Herzen und einer Lobpreisung auf deinen Lippen.
4
Dein Freund ist die Antwort auf deine Not. Er ist das Feld, in das du Liebe säst und auf dem du mit Dankgebeten erntest. Und er ist dein Tisch und dein Herd. Denn zu ihm kommst du mit deinem Hunger und bei ihm suchst du den Frieden. Wenn dein Freund das Seine äußert, fürchte nicht ein Nein, das sich in dir regen mag, und ein Ja ihm gegenüber halte nicht zurück. Und wenn er schweigt, so lasse dein Herz nicht davon ab, dem seinen lauschen. Denn in der Freundschaft werden alle Gedanken, alle Wünsche und alle Erwartungen geboren und miteinander geteilt – ohne Worte und mit einer Freude, die keines Beifalls bedarf.
5
Musst du deinen Freund verlassen, so sei dein Herz nicht betrübt, denn was du am meisten an ihm liebst, mag dir in seiner Abwesenheit noch klarer ins Bewusstsein treten, so wie der Wanderer den Berg von der Ebene aus klarer erkennt. Und deine Freundschaft verfolge kein weiteres Ziel als das Vertiefen in den Geist. Denn Liebe, die etwas anderes sucht als die Enthüllung ihres eigenen Geheimnisses, ist keine Liebe, sondern ein ausgeworfenes Netz, und nur das Wertlose wird darin gefangen.
6
Das Beste, was du hast, sei für deinen Freund. Wenn er von der Ebbe deiner Gezeiten wissen muss, so eröffne ihm auch deine Flut. Denn was wäre dein Freund, wenn du ihn nur aufsuchtest, um Stunden mit ihm totzuschlagen? Suche ihn stets auf, um Stunden mit ihm zu leben. Denn das Seine ist es, das Fehlende in dir zu ergänzen, nicht aber, deine Leere zu füllen. Und in die Süße der Freundschaft lasst auch das Lachen ein und geteilte Lust. Denn im Tau des Kleinen findet das Herz seinen Morgen und seine Erfrischung.
7
Ihr wurdet zusammen geboren, und ihr werdet immer zusammen sein. Ihr werdet zusammen sein, wenn die weißen Flügel des Todes eure Tage scheiden. Wahrlich, selbst im Schweigen des Gedenkens Gottes werdet ihr zusammen sein. Aber lasst Raum zwischen euch, und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen. Liebt einander, aber macht aus der Liebe keine Fessel. Lasst sie vielmehr ein wogendes Meer zwischen den Ufern eurer Seelen sein. Füllt einander den Becher, aber trinkt nicht aus einem Becher. Gebt einander von eurem Brot, aber esst nicht vom selben Laib. Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich, aber lasst einander auch alleine sein, so wie die Saiten einer Laute alleine sind, aber doch durch dieselbe Musik schwingen. Gebt einander eure Herzen, aber nicht in gegenseitige Aufsicht, denn nur die Hand des Lebens kann eure Herzen ganz umfassen. Steht einer beim anderen, aber steht nicht zu nah, denn die Säulen des Tempels stehen einzeln, und Eiche und Zypresse wachsen nicht im gegenseitigen Schatten.