Ein Interview mit dem Spaziergangforscher Bertram Weisshaar
Millionen Menschen sitzen gerade zu Hause und ihnen fällt die Decke auf den Kopf. Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar hat schon lange vor Corona geraten: „Einfach losgehen“! Ausgebildet als Fotograf und Landschaftsplaner nahm der freiberufliche Promenadologe schon viele Menschen mit auf von ihm hierzu gestaltete Spaziergänge oder auch mehrtägige Wanderungen. Stets suchen dabei seine “Gedankengänge” den ungewöhnlichen Blick und überraschende Perspektiven. Warum tut uns Schlendern und Wandern so gut? Wie stellt man es am besten an, wieder mehr zu Fuß zu gehen? Das verrät der Wissenschaftler in einem Interview (mit freundlicher Genehmigung des Bastei-Lübbe-Verlags):
1. „Einfach losgehen“ heißt nicht nur Ihr Buch, sondern das ist auch Ihre Devise bei Ihrer täglichen Arbeit. Was machen Sie genau?
Bei meiner Arbeit spielt das Gehen stets eine zentrale Rolle. Zum einen trifft dies zu auf meine Geschichten und Texte. Zum anderen gestalte ich aber auch zahlreiche Audio-Walks und geführte Spaziergänge und Wanderungen, sei es durch Städte oder Landschaften. Dabei geht es im Prinzip immer um die Wahrnehmung der Welt aus der Perspektive der Gehenden. Das Gehen ist einer der unmittelbarsten Zugänge zu Welterfahrung.
2. Warum ist Spazieren und Schlendern etwas, das uns gut durch die aktuelle Zeit der Schutzmaßnahmen retten könnte?
Tägliches Gehen fördert unsere Gesundheit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, täglich 8.000 bis 10.000 Schritte zu absolvieren. Nur schon damit kann man vielen sogenannten Zivilisationskrankheiten ganz einfach davonlaufen. Gerade in der jetzigen Zeit ist das tägliche Spazieren auch für unsere Psyche sehr zuträglich. Das zu Fuß unterwegs sein bringt auf andere Gedanken, beschert jetzt im Frühjahr auch wertvolle sinnliche Erlebnisse –eine notwendige Abwechslung zum verordneten Stubenhocken.
3. Viele von uns sind es gar nicht mehr gewohnt, im Alltag zu Fuß zu gehen. Wie geht das, einfach loszugehen?
Gibt es die optimale Einsteigerstrecke? Oder sollten wir zumindest einen groben Plan machen, bevor wir loslaufen? Das ist ja gerade das Schöne am Gehen: Es ist denkbar einfach. Man steht auf, macht den ersten Schritt – und siehe da, schon geht man. Es braucht dazu im Prinzip keinerlei Zeug. Na gut, wir sind es gewohnt mit Schuhen und bekleidet vor die Tür zu gehen. Aber für Menschen mit durchschnittlicher Gesundheit ist das auch schon alles. Das Gehen ist in diesem Sinne urdemokratisch, es ist jedem Menschen gleichermaßen angeboren. Eine Einschränkung kann hingegen die im Alltag persönlich verfügbare Zeit bedeuten. Oft höre ich die Antwort: „Ich hab gar nicht die Zeit, meine Wege zu Fuß zurückzulegen.“ Nicht fahren zu müssen, sondern gehen zu können, ist heute ein Ausdruck von Reichtum –Zeitreichtum. Viele Mitmenschen sind durch die Corona-Pandemie nun vorübergehend zeitreichergeworden. Glücklich schätzen kann sich dabei, wer gesund geblieben und in keine wirtschaftliche Not geraten ist –und keine Ausgangssperre das Spazieren verbietet, wie etwa in Frankreich. Da möchte ich jeden Mitmenschen ermutigen: Nutzt das! Geht, geht, geht.
4. Wie nehmen Sie als Spaziergangsforscher die aktuelle Zeit wahr? Beobachten Sie, dass Ihre Nachbarn mehr zu Fuß gehen? Was glauben Sie, wird Corona nachhaltig verändern, wie wir uns fortbewegen?
Ich habe sehr stark den Eindruck, dass gegenwärtig, da quasi „nichts mehr geht“, das Gehen und Spazieren wieder neu entdeckt wird. Plötzlich ist es allen wieder wertvoll. Das ist sehr schön und diese neue Bedeutung wird auch nicht so schnell aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwinden. Plötzlich sind auch die vielerorts viel zu schmalen oder kaputten Gehwege ein allgemeines Thema. Viele verstehen jetzt, nicht nur die Autos, sondern auch die Fußgänger brauchen Platz in den Straßen. Die Stadtparks werden erlebt als zu klein. Die Stadtverwaltungen registrieren, wie rasch die Stadtparks viel zu voll werden an einem Sonntag mit schönem Wetter. Das heißt: Die Mitbürger, die Menschen in den Stadtverwaltungen und den Stadträten erleben, beobachten und begreifen gegenwärtig, dass es in den Städten mehr Parks und eine bessere Infrastruktur für die zu Fuß Gehenden braucht. Ich erwarte davon einen deutlichen Impuls in Hinblick auf die Stadtgestaltung.
5. Wie hat sich Ihr eigenes Leben verändert, seit die Schutzmaßnahmen gelten? Was vermissen Sie am meisten? Und was haben Sie womöglich neu für sich entdeckt?
Mein Kalender für dieses Jahr war bereits voll mit vielen Terminen für Veranstaltungen, öffentliche Spaziergänge und geführte Wanderungen und Landpartien. Vieles davon schwebt nun im Ungewissen. Mit anderen Menschen zusammen unterwegs zu sein – das vermisse ich bereits. Andererseits lehrt einem diese Zeit, bei seinen Planungen das Unwägbare wieder mit einzuplanen. Und man hinterfragt: Was ist denn wirklich wichtig und von Relevanz über den Tag hinaus?
Einfach losgehen – Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen, Eichborn-Verlag, 288 Seiten, 20 Euro
Bertram Weisshaar verführt uns mit seinem Buch zum Wandern. “Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint mir sehr naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Jeder Schritt hier, alles ist mir doch so vertraut, unmittelbares Wohnumfeld, und doch ist es ein bisschen so, als wäre es mir nun ein wenig fremd, als wäre ich schon nicht mehr von hier.”
Weitere Informationen finden Sie unter www.luebbe.com/