Zum Nachdenken …

Mehrmals in der Woche ruft mich meine beste Freundin abends an und lässt in einem ausgiebigen Plausch mit mir die Erlebnisse der letzten Tage Revue passieren. Gestern berichtete sie mir, dass sie seit ihrem Umzug einige neue Leute aus der Nachbarschaft kennengelernt hat. Darunter ist auch eine 83jährige Dame, die allein in einem riesigen Haus wohnt und aufgrund ihrer schweren Erkrankung kaum noch allein zurechtkommt. Trotzdem hat sie ihren Mut und ihre Zuversicht bisher nicht verloren.

Die Schilderung meiner Freundin stimmte mich nachdenklich. Viele Fragen schossen mir durch den Kopf. Neigen wir nicht oft dazu, wegen einiger Unannehmlichkeiten, eines momentanen Unwohlseins oder geringfügiger Beschwerden bereits mit unserem Schicksal zu hadern? Sollten wir uns in solchen Fällen nicht in Erinnerung rufen, dass es uns noch viel schlimmer hätte treffen können? Haben wir Dankbarkeit und Demut verlernt? Können wir eigentlich den Moment, das Heute überhaupt noch genießen?

Während sich in meinem Kopf das Gedankenkarussell drehte, erinnerte ich mich an ein kleines Gedicht von Christian Reuter.

Lebenskunst

Ach, was sind wir dumme Leute –
wir genießen nie das Heute.
Unser ganzes Menschenleben
ist ein Hasten, ist ein Streben,
ist ein Bangen, ist ein Sorgen.
Heute denkt man schon an Morgen.
Morgen an die spätere Zeit –
und kein Mensch genießt das Heut.

Auf des Lebens Stufenleiter
eilt man weiter, immer weiter.
Nutz den Frühling deines Lebens,
leb im Sommer nicht vergebens,
denn gar bald stehst du im Herbste
bis der Winter naht, dann sterbste.
Und die Welt geht trotzdem heiter
immer weiter, immer weiter.

von Christa Commer

 

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