“Zehns Erna” packt aus

Erinnerungen einer Glessener Bäuerin, Jahrgang 1927

Wenn ich durch Glessen gehe, begegnet mir immer etwas Schönes. Diesmal war es ein Buch. „Zehns Erna – Erinnerungen einer rheinischen Bäuerin, Jahrgang 1927“ ist bereits 1997 im KBV-Verlag erschienen und leider nur noch antiquarisch erhältlich. Wer noch ein Exemplar ergattern kann, dem sei die Lektüre der chronikartigen Biographie von Erna Holtz wärmstens empfohlen. Sehr detailliert und oft auch augenzwinkernd wird hier der Alltag einer bäuerlichen Großfamilie Ende der Zwanziger bis Anfang der 50ger Jahre beschrieben, mit tiefen Einblicken in die damalige Landwirtschaft, das Brauchtum und Dorfleben zwischen Patsch (Viehfutter aus Rübenblättern), Klatschkies (Quark), Öllisch (Zwiebeln) und verbotenem Knollenbrand (Rübenschnaps).

“Ald widder e Frauminsch”

Klein-Erna wurde am 1. Juni 1927 als vierte Tochter der Glessener Bauersleute Heinrich Simons und Lenchen geborene Marx geboren. Bis zu ihrer Heirat 1952 lebte sie mit ihren drei Schwestern Cila, Trudel und Kathi auf dem elterlichen Bauernhof in der heutigen Hohe Straße im Unterdorf. Die große Zehnsfamilie – den Namen Simons kannte man in Glessen nur auf dem Papier – fand in dem kleinen Fachwerkhaus kaum Platz, zumal es für Gäste eine magische Anziehungskraft zu haben schien. „Alle, die kamen, blieben meist etliche Tage bei uns“, schrieb Erna am 14. Januar 1946 in ihr Tagebuch. Ein Abend „unter uns“ war die absolute Ausnahme und verdiente eine besondere Erwähnung.

Milchmädchen Cila (r.) mit Melkerin Magda

Die gute alte Zeit um die Jahrhundertwende war nur für eine kleine Gesellschaftsschicht gut und schön. Der großen Masse ging es miserabel. Männer, die Arbeit in den umliegenden Kohlegruben fanden, hatten Glück. Die täglichen kilometerlangen Wege zur Arbeitsstelle wurden zu Fuß zurückgelegt. Nach dem Börsencrash 1929 ging es den meisten Menschen noch schlechter, so dass Ernas Eltern schon mit dem Gedanken spielten, die Landwirtschaft ganz aufzugeben und ein Geschäft in Köln zu eröffnen. Stattdessen baute die Familie ihr kleines Milchgeschäft in Glessen aus. „Mama war in ihrem Element, wenn sie in unserem kleinen Tonnengewölbekeller mit einem gemusterten Holzbrett die Halbpfünder, Dreiviertelpfünder und Einpfünder Butter zurechtklatschte.“ Mit ihren gestärkten Schürzen zogen die Zehns-Milchmädchen mit ihren picobello-sauberen Handkarren zur Auslieferung durchs Dorf, das damals noch in ein Unter- (Richtung Fliesteden) und ein Oberdorf (Richtung Oberaußem) geteilt war.

Die Zehns

Die Kinder müssen von klein an im elterlichen Betrieb mithelfen.  Aber: „Schon als Kleinkind bestanden die Spiele, die mir am meisten Spaß machten, aus den Arbeiten, die auf einem Bauernhof getan werden mussten.“ In der Scheune bauten die „Puten“ Tunnel im Stroh und spielten Verstecken in der Dreschmaschine, im Jauchefass oder in schmutzigen Säcken, schaukelten an den Deckenbalken, spielten in der Sandkuhl oder sausten die noch nicht asphaltierte Hüll mit ihren Schlitten herunter. Opfer ihrer Streiche wurde nicht selten die kurzsichtige Tant Trinchen, die aber nie wirklich böse wurde und mit ihren Zückerchen alle Schmerzen lindern konnte. Von dem Erlös aus dem Verkauf von Sauerkirschen wurde ein Fahrrad angeschafft, auf dem das ganze Unterdorf fahren lernte. Der Vater legte großen Wert darauf, dass seine Mädels schwimmen konnten – und so ging es so oft wie möglich nach Müngersdorf ins Schwimmbad. Mit dem Fahrrad natürlich.

Glessener Bessem

Jeden Samstag war im Dorf großes Reinigen der Straße und der dazugehörigen Gosse angesagt. Für den gepflasterten Köttelshof am Pferdestall, in dem immer etwas hängen blieb, eignete sich am besten der weit über die Dorfgrenzen hinaus bekannte „Glessener Bessem“. Am Kreisel im Ortseingang haben die Glessener ihrem alten Handwerk ein Bronze-Denkmal gesetzt.

Die Zehns-Mädels

In die glückliche Kindheit und Jugend brachen die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs ein, alle kriegstauglichen Männer wurden eingezogen. Doch: „Gemeinsam mit den Kriegsgefangenen und Zivilrussen schafften wir es mit Humor und Zuversicht.“ Stramme Nazis hatten keine Chance, bei einem Vortrag wurde der Redner einfach ausgelacht. Flüchtlingsströme und Einquartierungen machten auch vor Glessen nicht Halt, die ersten Bomben brachten Tod und Zerstörung. Dabei traf es auch Max, das Kutschpferd, dessen Fleisch großzügig verteilt wurde. Bei Fliegeralarm fuhr die freiwillige Feuerwehr mit dem Fahrrad durchs Dorf und warnte die Menschen, die in Bunkern ausharrten. „Oft war man einem Herzschlag nahe, wenn um uns die Flaksplitter einschlugen und man zwischendurch bei völliger Finsternis die Häusernischen zum Schutz aufsuchen musste“. 1943 hagelte es beinahe täglich Bomben auf Pulheim, Stommeln und Königsdorf mit ihren Bahnhöfen, auch die Kraftwerke und der Scheinflughafen zwischen Büsdorf und Glessen wurden oft beschossen. Von Glessen aus waren das brennende Köln zu sehen und die schweren Erschütterungen zu spüren, als am 16.11.1944 ganz Düren in Schutt und Asche ging.

Wie groß war die Erleichterung, als der Krieg endlich zu Ende war und der Dom noch stand. Wochenlang gab es kein Wasser und keinen Strom, eine Hungersnot drohte. Und wieder packten die Glessener mit an und organisierten nach dem Abzug der Amerikaner die Lebensmittelversorgung neu. Der Schwarzmarkt blühte, es wurde getauscht und gemaggelt, was das Zeug hält. Ob Seidenstrümpfe, Zwiebelsamen oder Ersatzteile für den Traktor, die findigen Zehns-Mädels wussten sich wie immer zu helfen.

Viel vom alten Glessen gibt es längst nicht mehr – der Fabricius-Weiher, auf dem in den 40er Jahren sogar noch Kahn gefahren wurde, ist längst zugeschüttet und bebaut, auf die beiden Mühlen und die alte Brennerei weisen heute nur noch Straßennamen hin. Auch die legendäre Gaststätte Schotten mit ihrem Kino und den rauschenden Festen im Saal ist längst Vergangenheit, ebenso wie die heimlichen Stelldicheins der großen Schwester, die sich ihre kleinen Fluchten mit 5 Pfennig Schweigegeld erkaufte, und der „kleine Club“ aus acht Freundinnen, mit denen Erna um die Häuser zog.

Leider ist die Autorin, die nach ihrer Heirat 1952 den Püngel schnürte und zu ihrem Mann August Holtz, „dem Verschmähten“, nach Elsdorf-Niederembt zog, bereits 2013 verstorben, so dass wir uns nicht mehr begegnet sind. Zu gern hätte ich als Neu-Glessenerin mit der alten Dame aus dem Nähkästchen geplaudert.

Andrea Floß

 

 

 

 

 

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