Demenz: “Ein Lächeln macht vieles leichter”

Geschichtenwettbewerb der Lokalen Allianz für Menschen mit Demenz Bergheim

Demenz hat viele Gesichter: Ein Sohn, der seiner demenzkranken Mutter durch Vorlesen wieder näherkommt und sie bis zum Schluss verständnisvoll begleitet. Eine verwirrte alte Dame, die allein in einer halb verfallenen Burg lebt und auf ihren verlorenen Liebsten wartet. Eine verhinderte Tänzerin, für die ihre Phantasien mit zunehmender Erkrankung immer wirklicher werden, bis auch die Erinnerung daran verschwinden – so unterschiedlich schreiben Bergheimer Autorinnen und Autoren über die Krankheit.

Anlässlich der 5. Demenzwoche im Rhein-Erft-Kreis hat die Lokale Allianz für Menschen mit Demenz Bergheim zu einem Geschichtenwettbewerb rund um das Thema Demenz aufgerufen – die besten werden auf der zentralen Allianz-Veranstaltung am 25. März 2020 von 14-17 Uhr im Gleis 11 in Quadrath-Ichendorf im Rahmen einer Lesung vorgestellt. Vorab hat das Seniorenportal Bergheim alle Einsendungen hier veröffentlicht.

Bewegende Erlebnisse, Gedanken und Erfahrungen, die Mut machen, zum Lachen oder Nachdenken bringen – die Demenzgeschichten berühren. Kleine Anekdoten aus der Arbeit mit Demenz-Kranken, Kurzgeschichten, Gedichte, Erzählungen – die Autoren näherten sich dem Thema auf verschiedenste Art. Eingesendet wurden insgesamt 14 Geschichten, fünf davon stammen von Bewohnerinnen des AWO-Seniorenzentrums Quadrath-Ichendorf. Lotte Lohr ist mit 99 Jahren die Älteste und berichtet darüber, wie sie auf einer Reise an den Gardasee ihre Liebe fürs Leben fand. Überforderte Pfleger, gestresste Angehörige, ein erfüllendes Ehrenamt – zwischen den Zeilen finden sich neben schönen Erinnerungen an damals auch leise Kritik, liebevolles Verständnis und so manch guter Rat: „Ein Lächeln macht alles leichter.“

Die Jury – bestehend aus Vertretern der Kreisstadt Bergheim und dem Rhein-Erft-Kreis, der Stadtbibliothek Bergheim, der Alzheimer Gesellschaft, Astrid Kurth von den Tierfreunden Rhein-Erst und den beiden Journalisten Andrea Floß und Dennis Vlaminck hatten die Qual der Wahl. Gewonnen hat letztendlich David Kollbach mit „Der Begleiter“. Platz 2 belegte Petra Windhausen vom Maria-Hilf-Krankenhaus („Ich muss zurück“) und Platz 3 André Hénocque („Ein Leben“), punktgleich gefolgt von Christa Wolf („Donau, so blau“) und Monika Frankfurter („Der Elefant“). „Wir wollten bewusst keinen Wettbewerb mit Gewinnern und Verlierern, sondern eine gute Auswahl für unsere Lesung bei der Demenzwoche treffen“, so Werner Wieczorek von der Stadtbibliothek Bergheim. Geplant ist eventuell noch eine Buchveröffentlichung.

Wer noch einen Text zum Thema Demenz schreiben will, kann dies gern tun: Per Mail an demenzgeschichten@gmx.de, oder per Post an Hans Jürgen Knabben, Kirchstr. 52b, 50126 Bergheim.

Platz 1: “Der Begleiter” von David Kollbach
Platz 2: “Ich muss zurück” von Petra Windhausen
Platz 3: “Ein Leben” von André Hénocque
Platz 4: “Donau, so blau” von Christa Wolf
Platz 5: “Elefant” von Monika Frankfurter

Weitere Demenzgeschichten

“Der Verstorbene” von Dorothea Napier, 93 Jahre
“Ich sehe Dich” von Christa Wolf
“Lächeln macht vieles leichter” von Monika Frankfurter
“Eine Reise zum Gardasee” von Lotte Lohr, 99 Jahre
“Anekdoten aus der Arbeit mit Demenz-Erkrankten” von Hannelore Lersch-Steier
“Sagen se mal” von Renate Könen
“Dicke Pflaumen” von Wilhelmine Giesen, 81 Jahre
“Familie Spathmann” von Maria Spathmann, 91 Jahre
“Mein Erlebnis” von G. Bauerfeind, 94 Jahre

Vergessene Klassiker

Ein Besuch auf der InterClassics in Maastricht

Technisch nicht serienfähig,  in der Produktion zu teuer,  manchmal einfach zu designverliebt…warum manche Auto-Dinos ausgestorben sind, hat ganz unterschiedliche Gründe. Die InterClassics Maastricht ließ von Donnerstag, dem 16., bis einschließlich Sonntag, dem 19. Januar 2020, längst verschwundene, doch unvergessene Kultmarken aufleben. ‘Forgotten Classics – Epic designs from the past’ lautete das Thema der 27. Ausgabe der Oldtimer-Messe, die inzwischen zu den größten Veranstaltungen dieser Art im Benelux-Raum gehört und mit exakt 34.473 Besuchern einen neuen Rekord verbuchte. Die Messe lockt traditionell viele Käufer und Liebhaber und ist mit 35.000 qm Messegelände, mehr als 800 Old- und Youngtimern sowie 300 Ausstellern die größte Veranstaltung für Classic Cars im Benelux-Raum. „Erik Panis und Raymond Mingels haben mit dieser Fahrzeugauswahl den Nerv der Besucher getroffen – denn in dieser Kombination kommen diese Fahrzeuge wohl nie mehr zusammen“, so Thorsten Tönis von der Agentur detail und zeitgeist.

24 atemberaubend schöne Modelle der erinnerungswürdigsten, aber nicht mehr bestehenden Automarken waren dort ausgestellt, darunter Wagen von Talbot Lago, Invicta, Hispano Suiza, Spyker, Voison, Bristol, Horch und Studebaker. Diese Automobile wurden von verschiedenen internationalen Museen und Privatsammlern zur Verfügung gestellt .

MECC Maastricht

Der Invicta S-Type von 1932 sollte beispielsweise die Qualität eines Rolls Royce mit dem Handling eines Bentley verbinden. Invictas Gründer Noel Macklin versuchte, die britischen Vorzüge guter Straßenlage und Zuverlässigkeit mit dem amerikanischen Anspruch an Leistungsfähigkeit und Laufruhe des Motors zu kombinieren. Das Auto wurde 1930 auf der London Motor Show vorgestellt. Es bestand aus den besten verfügbaren Materialien, wie einem enorm stabilen Chassis aus Nickelstahl und massiven, hochwertigen Bronzeguss-Teilen.

 

MECC Maastricht

Auch an den Talbot Lago können keine normalen Maßstäbe angesetzt werden – er ist eine automobile Skulptur. Pure Kunst. Funktion folgt hier Form und nicht umgekehrt. Die extravagante Formensprache stammt von Jacques Saoutchik, einem aus der Ukraine geflüchteten Tischler, der 1906 bei Paris seinen eigenen Karosseriebetrieb gründete. Sein Ziel war, an die Spitze der Automobilindustrie zu gelangen, was ihm in den 1920er Jahren schließlich gelang. Seine Entwürfe gelten seitdem als die avantgardistischsten der Automobilgeschichte – mit übertriebenen, fast sinnlichen Formen und großzügigem Einsatz von Chrom. Man beachte die extreme Wölbung der Radkästen und die subtilen Kotflügelflossen. All das erinnert an die ausladende Gestaltung in den 1930er Jahren, doch in den Jahren direkt nach dem 2. Weltkrieg war das nicht mehr angebracht. Die Welt war mit dem Wiederaufbau beschäftigt und hatte keinen Platz für derartig kostspielige Autos. Nur 36 Grand Sports wurden gebaut.

MECC Maastricht

Das Studebaker – Champion Regal Deluxe Starlight Coupé von 1950 wurde von dem in Paris geborenen Raymond Loewy (1893-1986) entworfen, einem der bekanntesten Industriedesigner des 20. Jahrhunderts. Er war unter anderem verantwortlich für die Neugestaltung der Coca-Cola-Flasche, das Logo der Zigarettenmarke Lucky Strike, das Design des Frigidaire-Kühlschranks, die holländischen Sprinter-Züge und die erste Innenausstattung der Concorde. In den 50er- und 60er-Jahren war Loewy Chefdesigner bei Studebaker. Das Deluxe Starlight Coupé mit „Kugelnase“, enthält viele von der Luftfahrt inspirierte Elemente.

Quelle Text: Thorsten Tönis,  detail und zeitgeist
Fotos Galerie: Andrea Floß
Fotos Forgotten Classics: MECC Maastricht

 

Demenzgeschichten: “Ich sehe Dich”

Ich sehe Dich

Ich sehe den Schmerz hinter Deinen Augen, sie blicken mich an – blicklos.
Ich sehe die Sehnsucht hinter Deinen Augen, sie suchen Halt – haltlos.

Ich sehe das Lachen hinter Deinen Augen, sie finden den Horizont.
Ich sehe die Liebe hinter Deinen Augen, sie finden mich.

Komm, in meinen Arm – alles ist gut!

Christa Wolf 

Demenzgeschichten – Der Verstorbene

Der Großvater hatte einen Bruder. Der Bruder mit Namen Theophil war von Beruf Lungenfacharzt. Eines Tages hatte er sich mit Typhus infiziert und starb daran. Er war Junggeselle.

Früher war es üblich, dass im großen Saal aufgebahrt wurde. Der Sohn vom Großvater war Student und kam an diesem Tag volltrunken nach Hause, verfehlte sein Zimmer und landete im Saal, wo der Verstorbene lag. Da er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, stolperte er im Zimmer herum und fiel schließlich in den Sarg. Es war wohl sehr gemütlich dort, denn er schlief sofort ein ohne zu bemerken, dass er neben einer Leiche lag.

Am nächsten Morgen wurde er wach und erschrak fürchterlich. Schockiert und völlig verkatert verließ er so schnell wie möglich den Raum.

Etwas später betrat die Mutter des Verschiedenen den Verabschiedungsraum, um noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Während sie die Kerzen anzündete stutzte sie plötzlich. Irgendetwas stimmte hier nicht!

Im Sarg herrschte das reinste Chaos; das Kissen eingedrückt, die Decke verrutscht…Aufgewühlt rief sie nach ihrem Großvater. Dieser ließ sofort den Doktor rufen. Der Doktor verschaffte sich einen Überblick und strich Siegellack auf den Puls den Toten. Dabei zuckte die Haut. Dem Doktor wurde sofort klar: Hierbei handelte es sich absolut nicht um einenToten. Der vermeintlich Tote hatte Agonie. Der „Verstorbene“ hatte alles mitbekommen, konnte sich aber nicht äußern.

Der Doktor heilte ihn und er lebte noch 30 glückliche Jahre.

Dorothea Napier, 93 Jahre, AWO-Seniorenzentrum Quadrath-Ichendorf

Demenzgeschichten “Donau, so blau!”

In einem 30 Seelen Dorf geboren, war die Stadt eine Herausforderung, die Großstadt ein Abenteuer.

Unschlüssig steht sie auf der großen Kreuzung. Um sie herum brandet der Verkehr. Die Luft ist durchdrungen von Abgasen. Zögernd setzt sie einen Schritt auf die Fahrbahn, schreckt zurück, versucht es erneut, schreckt zurück, strafft sich schließlich und lässt sich mit dem Strom der nächsten Grünphase treiben.

Geborgen in der Masse strandet sie in einem kleinen Park. Das Tanzcafé in der Mitte des Parks erkennt sie sofort. Mit Herzklopfen setzt sie sich auf die Bank. Es dauerte nicht lange, da tritt ein junger Mann auf sie zu. Formvollendet verbeugt er sich vor ihr.

„Darf ich bitten?“

Freudig steht sie auf. Sie legt ihren Arm um ihn. Es ist ganz leicht, den gemeinsamen Rhythmus zu finden. Eins, zwei, drei; eins, zwei, drei; „Donau so blau, so blau so blau, so blau.“ Voller Begeisterung singt sie den Text mit. Versunken, den Arm um den jungen Mann gelegt, tanzt sie zu den bekannten Klängen.

Dem Walzer folgt ein Tango, dem Tango ein Marsch und wieder ein Walzer. Sie kommt kaum dazu, sich zum Verschnaufen auf die Bank zu setzen. Die jungen Männer sind gut erzogen. Immer wieder verbeugt sich einer vor ihr und fragt: „Darf ich bitten?“

Sie ist selig; ewig könnte sie so weiter tanzen.

Dann steht da ein anderer Mann vor ihr. Schneidig sieht er aus, so in seiner Uniform. Sie mag Männer in Uniformen. Sie weiß nicht warum, aber sie strahlen so etwas aus, so etwas Respekteinflößendes. Sie ist stolz, dass er sich für sie interessiert. Leise summt sie die Walzermelodie vor sich hin „Lippen schweigen, `s flüstern Geigen, hab mich lieb!“ Sehnsuchtsvoll wiegt sie sich im Takt. Gleich wird er sich vor ihr verbeugen.

„Darf ich bitten?“

Sie fühlt seine Hand auf ihrer Schulter. Er beugt sich zu ihr hinunter. Dann sagt er: “Lassen Sie uns gehen, es ist zu gefährlich für eine alte Frau so allein im Park!“

Christa Wolf – Platz 4

Demenzgeschichten – Ein Leben

Ich heiße Else. Der Name hat mir nie gefallen. Viel lieber hätte ich Isadora geheißen, wie die große Duncan. Ich habe gerade einen runden Geburtstag gefeiert, mit Kind und Kegel, wie man sagt. Abends waren wir im Theater bei einer Ballettaufführung. Mein Gott! War das schön. Die Tänzerinnen in ihren Tütüs beim Spitzentanz und die Tänzer… Anmutig und stark, muskulös und grazil, ein wenig Hermaphrodit. Aber nein, sie sind einfach bewundernswert. Ich habe auch Ballettunterricht gehabt, aber ich wurde zu groß. Schade.

In der Pause gab es ein Glas Sekt. Das war wie früher, als ich als Assistentin der Geschäftsleitung regelmäßig an Empfängen teilnahm, ja teilnehmen musste. Die Prickelbrause war nie mein Fall. Bier war mein Lieblingsgetränk! Das konnte Georg, mein Mann nie verstehen. Er war als Weinkenner verschrien, oder besser berüchtigt, denn er konnte keinen Schluck ohne Kommentar hinunterbringen. Na ja! Schon seit einiger Zeit weilt er nicht mehr unter uns und ich hoffe für ihn, dass es im Himmel Weinberge gibt.

Jetzt ein Bier, das wäre toll!

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Ich werde Else gerufen. Kein Mensch nennt mich Isadora, wahrscheinlich weil niemand weiß, dass ich lieber diesen Vornamen gehabt hätte. Die Frau, die mein Vorbild war und göttlich tanzen konnte, hieß wie ich. Sie war mit einem Russen zusammen, auch ein Tänzer. An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern. Ist nicht so wichtig. Meine Tochter könnte ich vielleicht fragen, wenn sie nur daran interessiert wäre. Tanzen wäre meine Berufung gewesen, auf der Bühne stehen, nicht Büroarbeiten. Georg hatte keine Ahnung von Tanz. Er konnte nicht einmal anständig Walzer tanzen. Wie hieß noch dieser Russe? Juri, Igor? Es gibt so viele schöne Männernamen.

Jetzt ein Bier, das wäre toll!

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Ich bin also Else. Jedenfalls sagt das die freundliche Dame, die mir das Frühstück gebracht hat. Frau Else. Wie das klingt. Sie kann nicht wissen, dass ich eigentlich ganz anders heiße: Isadora. Ich will sie nicht verwirren. Die anderen werden es ihr schon sagen. Früher, als ich noch auf der Bühne tanzte, kannten alle meinen Namen. Ich schwebte in luftigen Gewändern wie eine griechische Göttin. Alles war leicht, alles war möglich.
Wie soll mein Mann geheißen haben? Georg? Das kann ich kaum glauben.
Er soll Prokurist gewesen sein? Ich war mit einem Tänzer liiert und niemals verheiratet. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden.

Jetzt ein Bier, das wäre toll!

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Liebes Kind, nennen sie mich Isadora. Ich werde ihnen gern ein Autogramm geben. Ich weiß nicht, wo diese Else geblieben ist. Sie war wahrscheinlich vorher hier und jetzt ist sie weg. Wenn ich von diesem Rollstuhl befreit sein werde, kann ich ihnen beweisen, dass ich die größte Tänzerin bin, die jemals gelebt hat. Paris, London, Sankt Petersburg, Wien …. Ich war überall die gefeierte Diva. Ich muss ihnen einmal in mein Fotoalbum zeigen.

Jetzt ein Bier das wäre toll!

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Ich kenne sie nicht. Wo ist meine Garderobe? Warum befinden sich so viele Leute in meinem Zimmer? Herr Doktor! Sie sind mein Leibarzt. Ich bin kerngesund, bis auf die Kopfschmerzen und dumme Gedanken. Wer soll das sein? Meine Kinder sind ertrunken. Ich bin allein.

Jetzt ein Bier, das wäre toll!

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Ist das nicht schön? Das Nationalballett und Schwanensee. Das habe ich immer am liebsten gehabt. Natürlich war ich die Primaballerina! Alle waren begeistert und glücklich.

Jetzt ein Bier, das wäre toll!

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Wie? Ein Bier? Ja, jetzt ein Bier das wäre toll!

André Hénocque – Platz 3

Demenzgeschichten – “Ich muss zurück”

Ein kleiner Ort im Erftkreis vor den Toren Kölns, mit einer alten halb verfallenen Burg eines ehemaligen Landadeligen.

Die Burg war im Jahre 2012 schon lange nicht mehr bewohnt und dennoch lebte dort noch immer eine sehr alte Dame. Ganz alleine. In einer alten Kate der ehemaligen Bediensteten der Burg auf dem Gelände. Sie wurde von kaum jemanden beachtet. Sie hat sich komplett selber versorgt, sie hatte keine Angehörigen und nur eine minimale Rente. Die alte Dame, nennen wir sie Alice, besaß ein uraltes klapperiges Fahrrad mit dem sie nicht mehr fuhr, weil sie Angst hatte zu fallen.

So schob sie es immer in den nächsten Ort um dort in einem kleinen Supermarkt ihre Lebensmittel zu kaufen.

Dann schob sie das Rad zurück und lebte weiter auf dem alten Burghof, unbeachtet und alleine vom Rest der Welt, der um sie herum immer geschäftiger und unübersichtlicher wurde. Die modernen Familien und Menschen um sie herum ignorierten die alte, seltsam gekleidete Frau völlig.

Keiner fragte sie, ob sie eventuell Hilfe benötigte. Niemand machte sich Sorgen. Niemand wunderte sich darüber, dass ihre Kleidung verschlissener und warum der BH über der Bluse getragen wurde.

An einem verregneten Tag geht Alice wieder mit ihrem Rad Richtung Supermarkt, rutscht aus, fällt und kann nicht mehr aufstehen. Der von Passanten gerufene Notarzt bringt sie ins Krankenhaus.

Dieses Ereignis setzt eine Maschinerie in Gange, die nicht mehr aufzuhalten ist…

Alice hat Schmerzen, weint und ist mit der ganzen Situation völlig überfordert, sagt nur immer wieder, dass sie dringend nach Hause muss. Der Oberschenkel ist gebrochen – sie wird sofort operiert. Das heißt alle Sachen ausziehen und Narkose.

Die Pflegekräfte, die ihr helfen, bemerken wie abgemagert Alice ist und dass ihre Haut voller Pilze ist.

Der Soziale Dienst des Krankenhauses wird über eine 93jährige, hilflose alte Dame benachrichtigt, die dringend Unterstützung braucht.

Nach zwei Tagen, in denen Alice auf einer Intensivstation sämtliche für sie katastrophalen Untersuchungen und Quälereien über sich ergehen hat lassen, kommt sie auf eine normale Station und wird dort vom Sozialdienst besucht.

Die Sozialdienst-Mitarbeiterin des Krankenhauses findet eine weinende 93jährige Dame im Bett liegend vor, die völlig verängstigt ist und sich an die Hände der Sozialarbeiterin klammert….

„Bitte, bitte ich muss nach Hause, Alfred findet mich sonst nicht…bitte, bitte bringen sie mich nach Hause.“

Der soziale Dienst nimmt sich der Geschichte an, weil Alice ja in diesem Zustand nicht einfach alleine nach Hause geschickt werden kann. Das zuständige Amtsgericht wird aktiviert und kommt mit Bildern von der Kate, in der Alice lebt, ins Krankenhaus. Alle sind entsetzt, wie man im Jahre 2012 noch so „hausen“ kann. Eine Kate aus rohem Stein, kein fließend Wasser, ein Eimer im Hof für ihre Notdurft, keine Elektrizität, verwahrloste Kleidung, eine Schüssel mit abgestandenem Wasser…katastrophale Lebensumstände. Besonders für eine 93jährige, die natürlich dort nicht mehr leben kann.

Das Amtsgericht stellt also einen Betreuer zur Verfügung, der für Alice die Vormundschaft übernimmt, sich um ihre Angelegenheiten kümmert und einen Platz in einem Seniorenheim sucht.

Im Verlauf der Behandlung im Krankenhaus wird Alice zunehmend verwirrter und unruhiger. Sie will nur nach Hause und ruft nach „Alfred“.

Nur wurde leider keine Erklärung für die Existenz eines „Alfred“ geliefert. Der Betreuer fuhr auf den alten Hof und suchte noch nach einem Hund oder einer Katze, die auf den Namen Alfred hörte – fand aber nichts.

Das Amtsgericht macht eine entfernte Nichte von Alice ausfindig, die aber schon seit 40 Jahren keinen Kontakt mehr zu Alice hat – die natürlich auch Alice nicht zu sich nehmen kann um sie zu versorgen und zu pflegen.

Jedoch erzählt diese Nichte den Krankenhaus-Mitarbeitern Alice Lebensgeschichte:

Alice lebt auf dieser Burg seit ihrem 6. Lebensjahr. Die Burg wird damals vom Landadel noch bewirtschaftet. Alice Mutter war dort Dienstmädchen, der Vater arbeitete auf den Feldern.

Die kleine Alice und ihre Geschwister wuchsen auf dem Gehöft auf und Alice wurde damals im Alter von 12 Jahren ebenfalls in den Dienst als Küchenhilfe eingestellt. Ihre Geschwister verließen später die Gegend.

Auf dem Hof arbeitete ein Stallknecht namens Alfred.

Alice und Alfred verliebten sich und waren verlobt als Alfred in den Krieg eingezogen wurde.

Alfred ist im Krieg gefallen.

Alice hat ihr Leben lang um ihn getrauert und nie geheiratet, sie hat weiter auf diesem Hof gelebt, selbst als die Burg verlassen wurde, ist Alice dortgeblieben.

Alice wusste, dass Alfred nicht mehr heimkommen kann, da er gefallen war, aber in Alice Kopf und Herzen war sie immer mit Alfred verbunden.

Und je älter und einsamer Alice wurde, wurde Alfred wieder zur Realität.
Und sie blieb auf dem Hof, damit Alfred sie bei seiner Rückkehr auch wiederfindet.

Dass Alice auch jetzt mit 93 und dement immer noch Alfred zum Lebensinhalt hat, ist da ja nachvollziehbar.

Alle Mitarbeiter des Krankenhauses waren tief getroffen und gerührt von dieser Geschichte.

Nur blieb allen Beteiligten nichts anderes übrig, als Alice in die Obhut des Pflegeheimes zu geben, weil es nicht möglich war, die alte demente Dame in diese schlimmen häuslichen Verhältnisse zurück zu geben.

Wie schön wäre es gewesen, wenn es jemanden gegeben hätte, der ihr die Kate hätte renoviert, eine Pflegekraft zur Seite gestellt hätte und sich um Alice in ihrer seit 87 Jahren gewohnten Umgebung zu kümmern. Leider ist dies in Deutschland so nicht vorgesehen.

Alice verstarb innerhalb zweier Monate im Pflegeheim, immer mit dem Rufen nach Alfred auf den Lippen.

Petra Windhausen, Maria-Hilf-Krankenhaus – Platz 2

Demenzgeschichten: Der Begleiter

Regen fällt nahezu lautlos von einem wolkenverhangenen Himmel, als er das Altenheim am Rande der Stadt betritt. Wie an jedem Abend empfängt ihn der seltsame Geruch, der ihm mittlerweile vertraut ist und an den er sich dennoch nicht gewöhnen kann. Eine Mischung aus Kochgerüchen, Putzmitteln, staubiger Luft und etwas anderem, Undefinierbaren.

Vielleicht riecht so Vergänglichkeit, denkt er, während er an der Rezeption vorbei zum Treppenhaus geht, die Türe aufstößt und mit schnellen, energischen Schritten die Stufen zum ersten Stock hinaufläuft. Die Zeiten, in denen er zögerlich unterwegs war, sind vorbei. Er ist entschlossen, da zu sein, bis zu ihrem Ende.

Zu dieser Zeit ist es ruhig auf der Station. Er nickt den Pflegerinnen in ihrem Glaskasten zu, nimmt ihre Erschöpfung und Resignation mit einem schnellen Blick zur Kenntnis. Schätzt sie, für das was sie leisten, an jedem einzelnen Tag, für zu wenig Geld und kaum Anerkennung.

Er erreicht ihre Türe mit dem Foto, einer schottischen Landschaft, klopft an, holt noch einmal tief Luft und betritt dann ihr Zimmer. Sie liegt im Bett, natürlich, denn es ist schon Abend. Sie blickt ihn mit leeren, verständnislosen Augen an, verloren an Orten, die er nicht erreichen kann.

Lavendelduft. Er hat ihr das Duftöl besorgt. Sie hat immer Lavendel gemocht und er hat die Hoffnung, dass sie es auch heute noch wahrnimmt.

Er zieht seinen feuchten Mantel aus, setzt sich auf den Stuhl neben dem Bett und nimmt das Buch von dem kleinen Tisch neben ihr. „Hallo Mama!“ sagt er, ein wenig heiser, ungewiss, ob vor Rührung oder dem langen Tag geschuldet. Sie reagiert nicht. Seit Wochen nicht. Dämmert vor sich hin. Demenz. Das Ende ganz nah.

Er schlägt das Buch auf. Walter Mosley. Cinnamon Kiss.

Zeit ihres Lebens hat sie sich mit Büchern umgeben. Bibliothekarin und Bücherfreundin. Eine Liebe, fast so groß wie die zu ihm, ihrem Sohn. Sie hat alles für ihn getan, ihn großgezogen, doch immer Raum gehabt, für ihre Reisen in den Gefilden der Literatur. Kriminalromane waren eine heimliche Leidenschaft, größer als die zu Dostojewski, Mann und Austen.

Er schlägt den Roman auf, findet die Stelle, die er am Vortag markiert hat und beginnt zu lesen. Mosleys Sprache ist knapp und prägnant und packt ihn nach wenigen Zeilen. Er liest und erweckt den Summer of Love zum Leben, wandert mit Easy Rawlings, dem schwarzen Detektiv, durch die Straßen von Los Angeles.

Aus den Augenwinkeln sieht er, wie seine Mutter den Kopf vom Kissen anhebt und ein feines Lächeln auf ihrem faltigen, gelbstickigen Gesicht erscheint. Ein Lächeln, das ihre Augen erreicht, als sie ihn aussieht und er mit einem Kloß in der Kehle erkennt, wie schön sie ist. Immer war, für ihn. Er liest weiter. Easy Rawlings auf den Spuren der rätselhaften Frau, in den Schatten des Glitzerlichtes. Und kann es nicht fassen, als seine Mutter spricht. Ich weiß nicht, wer Sie sind, junger Mann, aber Sie haben eine wunderschöne Stimme.“

Er ergreift ihre Hand. Sie ist klein und warm in der seinen und er liest weiter, Stunde um Stunde, weist ihr den Weg und begleitet sie noch eine Weile durch den dichter werdenden Nebel, bis in die Nacht.

David Kollbach – Platz 1

Demenzgeschichten: “Mein Erlebnis”

Im Sommer 1928 war ich zum ersten Mal in der Eifel, mit meiner Mutter und den beiden Schwestern, die schon etwas älter waren. Mittags kam der Opa vom Feld. Beim Mittagessen fiel auf, dass der Hund, vor dem ich Angst hatte, fehlte. Nach langem Rufen und Suchen war der Hund immer noch nicht da. Dann merkte der Opa, dass seine Jacke auch nicht da war. Er hatte sie ausgezogen und an den Rand abgelegt. Nun wusste er auch, wo der Hund war. Ich konnte das alles nicht verstehen und erst viel später begreifen. Opa ging dann beide holen.

Nun wusste ich, was „ein feiner Hund“ heißt.

G. Bauerfeind, 94 Jahre, AWO-Seniorenzentrum Quadrath-Ichendorf 

Demenzgeschichten: “Lächeln macht vieles leichter”

Demenz heißt vergessen,

Demenz heißt verstehen,

Demenz bedeutet die Welt,

mit anderen Augen zu sehen.

Demenz ist nicht nur traurig und grau, nicht nur gefangen, wie ein Maulwurf im Bau

Demenz ist oft auch, wie ein Sonnenschein bringt auch Freude und Farbe ins Leben rein

Wir müssen es nur anders sehen,
dann können wir auch die Perspektive verstehen.

Ich möchte euch Mut und Hoffnung geben, gemeinsam in die Zukunft streben.

Drum möchte ich Euch mein Lächeln schenken, in Gedanken an Euch denken.

Gemeinsam Hoffnungsschimmer sehen, so wie die Sterne am Himmel stehen.

Egal was passiert, es leuchtet ein Licht, welche Hoffnung spiegelt in unser Gesicht.

Ein Lächeln für Dich, eines für mich, eines für jeden, will Freude und Hoffnung geben

Darum geben wir nicht auf, unseren Lebenslauf.
Mit wenig Höhen und mehr Tiefen, die dafür sorgen, das Tränen liefen.

Mut, Hoffnung und der Verstand, sagen: Nimm das Leben in deine Hand

Hab keine Angst vor den vielen Dingen, die Demenzerkrankungen mit sich bringen

Lass dich von den Träumen tragen, die schönen Seiten des Lebens wagen.

Werfe dich mitten hinein ins Leben, denn danach lohnt es sich zu streben

Bringst du nur einem das Glück im Leben, wird auch er Dir ein Lächeln geben.

So geht ein Lächeln rund um die Welt, und jedes Lächeln ist wie ein Held.

Es zeigt wir sind da, sind bereit zum Scherzen, egal wie es geht, auch mit unseren Schmerzen.

Denn mit einem Lächeln und sei es ganz klein, ist es ein Anfang um glücklich zu sein.

Darum lasst uns lächeln jeden Tag, damit uns Demenz, weniger antun mag.

Monika Frankfurter

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