Demenzgeschichten: Spaß muss sein…

sonst kommen keine Leute zur Beerdigung

Das war einer der Lieblingssprüche meiner Mutter, mit der sie sich über so manche Lebenskrise hinweg gerettet hat. Meine Mutter war eine wunderbare Frau. So furchtbar ich es als junge Frau fand die Worte zu hören, “ganz wie die Mutter“, so stolz würde mich diese Aussage heute machen. Hier ihre „Demenzgeschichte“.

Mehr als drei Jahre hatte meine Mutter, eine unabhängige, starke Frau, bereits in einer eigenen Wohnung mit Betreuung gelebt, als sie, wegen fortschreitender multipler körperlicher Beeinträchtigungen in ein Pflegeappartement im gleichen Haus umziehen musste. Gleich beim Abendessen des ersten Abends stand sie, wie sie es aus ihrer Vergangenheit gewohnt war auf, bat mit einem beherzten Klopfen an ihr Wasserglas die versammelten Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnbereichs um ihre „ geschätzte Aufmerksamkeit“. Sie stellte sich mit wohlgesetzten Worten vor und schloss: „Ich glaube, wir werden es jetzt eine Weile miteinander aushalten müssen. Ich wünsche uns allen eine gute gemeinsame Zeit!“ Erste Zweifel an ihrer geistigen Fitness tauchten auf. Man hatte in der Einrichtung ja schon viel erlebt, aber das?

Der neue Alltag zog ins Leben meiner Mutter ein und mit ihm unendliche viele Angebote die Freizeit sinnvoll zu gestalten. Stricken oder andere Handarbeiten wäre doch schön, bot man ihr an oder vielleicht Geschichten von früher hören. Gemeinsam Fernsehen stand ebenso auf dem Programm, wie Gartenkegeln und Ähnliches. Meine Mutter mit über 90 Jahren, zwar mit einem schlechten Gehör aber einem immer noch kritischen Verstand gesegnet, verschmähte schnöde diese Verlockungen. Tageszeitungen und ihre Bücher, treue Begleiter ihres langen Lebensweges, aber auch ihre noch immer mit Akribie betriebene tägliche Buchführung, waren ihr Beschäftigung genug. „Außerdem“, vertraute sie mir eines Tages an, „man kann sich gar nicht richtig unterhalten. Die Bewohner erzählen an einem Tag mindestens dreimal das Gleiche.“

Seltsam, eine Frau, die nur an den gemeinsamen Mahlzeiten, aber so gar nicht an Gruppenangeboten teilnimmt? Und akribische Buchführung für das Taschengeld im Altenheim? Das Personal war irritiert.

Meine Mutter war eine stolze Frau. Sie kokettierte mit ihrer partiellen Taubheit, ein Ohr war bereits seit ihrer Kindheit vollständig „außer Betrieb“, doch sie mochte nicht zugeben, dass sie, das andere Ohr war inzwischen auch beeinträchtigt, immer weniger verstand. So kam es, dass sie fröhlich und selbstverständlich Fragen beantwortete, die nie gestellt worden waren, deren Inhalt sie sich zusammengereimt, aber nicht gehört hatte. Wieder tauchen Zweifel auf. „Demenzielle Veränderung“ munkelten die Einen, „Unsinn, sie hört nur schlecht“ konterten die Anderen.

Hinzu kam, dass meine Mutter eine ausgesprochene Abneigung gegen Optiker und Augenärzte hatte. Sparsam, wie sie war, war sie der Meinung, die alte Brille tauge noch. Eine neue sei Verschwendung. Das führte dazu, dass sie selbst mich schon mal, wenn ich ohne Worte ihr Zimmer betrat mit der Frage „Ja bitte, was möchten Sie, kann ich Ihnen helfen? begrüßte.

Die Meinung des Personals bezüglich der vorhanden oder nicht vorhandenen demenziellen Veränderungen meiner Mutter klafften schließlich weit auseinander. Ob des unauflösbaren Streits der Stationskräfte, wurde schließlich ein Facharzt zu Rate gezogen.

Der erschien prompt in Begleitung einer Assistentin und diverser Tests. Die dienten hauptsächlich dazu Zeitgitterstörungen sichtbar zu machen und die allgemeine Orientierung meiner Mutter zu überprüfen. Um einen Eindruck über vorhandene und nicht vorhandene Fähigkeiten zu bekommen, sollte zudem geprüft werden, ob sie in der Lage sei, Sinnzusammenhänge zu erkennen. Dazu galt es Sätze zu ergänzen, Texte zu vervollständigen, Aussagen in einen Sinnzusammenhang zu bringen und einfache, alltägliche Rechenoperationen durchzuführen.

Am Abend nach dem Test besuchte ich meine Mutter und fragte, wie es gewesen sei.

Hier das Wortprotokoll Ihrer Antwort.:

„Kind die Fragen waren ja kinderleicht. Da hätten sie schon mit etwas Anspruchsvolleren kommen können. Aber es hat so großen Spaß gemacht. Ich habe gleich gefragt, wann sie denn wieder kommen. Stell Dir vor, sie haben gesagt: Das ist nun wirklich nicht nötig. Ist das nicht schade?“

Christa Wolf, Elsdorf

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